In den 1920er-Jahren wurde das Haus Vaterland zum wichtigsten Vergnügungstempel Berlins. Seine Entstehung hängt eng mit dem Namen Leo Kronau zusammen, der vormalige Leiter des Berliner Luna-Parks war einer der Pioniere der neu entstehenden Vergnügungskultur im 20. Jahrhundert.

Das seit Mitte der 1920er-Jahre aufblühende Nachtleben von Berlin zentrierte sich nicht mehr am Potsdamer Platz. Vielmehr entwickelte sich nun der „Neue Westen“ um den Kurfürstendamm, den Auguste-Viktoria-Platz (heute Breitscheidplatz) und die Tauentzienstraße zum neuen Anlaufpunkt für die Nachtschwärmer. Die Etablissements rund um den Potsdamer Platz gerieten daraufhin stärker unter wirtschaftlichen Druck, zusätzlich zu den Problemen, die Krieg und Revolution mit sich gebracht hatten. Dies galt auch für das Café Vaterland, das seit Kriegsende wirtschaftlich nicht an die Erfolge der Vorkriegszeit anknüpfen konnte. Und auch der Eigentümer des Gesamtgebäudes geriet in ökonomische Schwierigkeiten. Bereits 1917 war der Komplex als Teil eines Aktienkonvoluts durch die Bank für Grundbesitz und Handel an die in diesem Jahr nicht zuletzt zu Propagandazwecken im Krieg gegründete UFA (Universum Film AG) verkauft worden, die 1919 in den Büroräumen ihren Hauptgeschäftssitz ansiedelte. 1927 geriet die mittlerweile privatisierte Filmgesellschaft, in direkter Konkurrenz zu Hollywood stehend, in eine finanzielle Schieflage und wurde an Alfred Hugenberg verkauft. Der rechts-nationalistische Hugenberg, ab 1928 Vorsitzender der Deutsch-Nationalen Volkspartei (DNVP) und machtvoller Medienmogul, dessen Konzern zwischen einem Drittel und der Hälfte der Presselandschaft des Deutschen Reiches kontrollierte, sah im Kauf der UFA einen weiteren wichtigen Schritt zur Ausweitung seines Einflusses. Immerhin waren dies noch die Zeiten, in denen sich die Menschen im Kino durch Wochenschauen über das Weltgeschehen informierten. Der UFA-Erwerb war also auch Teil von Hugenbergs politischem Kampf. Das Haus Potsdam, das mit der UFA in seinen Besitz übergegangen war, hatte für ihn vor allem wegen des großen Lichtspielhauses Bedeutung. Für dieses sicherte er sich ein dauerhaftes Nutzungsrecht, verkaufte aber darüber hinaus den Gesamtkomplex unmittelbar weiter.

Ansicht einer der Bars im Haus Vaterland © Haus Vaterland Archiv Eckhard Grothe.


Genauer gesagt handelte es sich um einen Rückkauf: Die Bank für Grundbesitz und Handel, zu deren Portefeuille das Haus Potsdam bereits im Kaiserreich gehört hatte, erwarb den Komplex nun zurück, offenbar mit dem Plan, das Haus neu und umfassend zu nutzen und die schlechte wirtschaftliche Bilanz des Cafés Vaterland zu verbessern. Man plante, den gesamten Gebäudekomplex, nun (abgeleitet vom Café) als Haus Vaterland bezeichnet, zu einem gigantischen Vergnügungsetablissement umzugestalten, einer ganzen Welt unter einem Dach.

Eine Haus Vaterland Gaststätten GmbH wurde gegründet, in deren Aufsichtsrat einerseits der Eigentümer des Grundstücks, die Bank für Grundbesitz und Handel, saß, andererseits die Banken, die den Umbau des Gebäudes finanzierten, und schließlich die Firma Kempinski, die den Betrieb übernehmen und beliefern sollte. Diese GmbH wiederum vergab mittels Pachtverträgen den zukünftigen Betrieb des Hauses: Das Kino, das hatte Alfred Hugenberg zur Bedingung des Verkaufs gemacht, wurde über einen Pachtvertrag an die UFA gegeben. Den Rest des Hauses wiederum pachtete die bereits erwähnte Firma Kempinski, die sich die Oberleitung des gesamten Betriebes zusichern ließ. Darüber hinaus garantierten Bewirtschaftungsverträge Kempinski für zehn Jahre das ausschließliche Lieferrecht von alkoholischen Getränken, Kempinski-Markenartikeln wie Zigarren und Zigaretten sowie von Lebens- und Genussmitteln zu bestimmten Vorzugspreisen.


Damit war Kempinski für die gastronomische Versorgung des gesamten Hauses zuständig. Darüber hinaus übernahm Kempinski aber auch die Geschäftsführung des Hauses, war also auch für das künstlerische Programm und das Angebot im Haus Vaterland verantwortlich. Mit Hans Kempinski übernahm der Neffe des Firmengründers Berthold Kempinski als einer von drei Geschäftsführern direkte Verantwortung im Haus Vaterland. Aber auch in anderen Bereichen nahm Kempinski Einfluss auf die Führung des Hauses, vor allem im Aufsichtsrat der Haus Vaterland Gaststätten GmbH, in dem mit Hans Kempinski, Richard Unger, dem Schwiegersohn Berthold Kempinskis, und Walter Unger, dem Neffen Richard Ungers, allein drei Familienmitglieder aus der Führungsetage von Kempinski saßen. Ein weiteres Familienmitglied sollte in einem anderen Bereich Einfluss auf das Haus Vaterland nehmen. Der Sohn von Hans Kempinski, Gerhard, hatte kein Interesse an wirtschaftlichen Zusammenhängen, dafür umso mehr am künstlerischen Leben. Er wollte zum Leidwesen seiner Eltern Schauspieler werden; um seine Interessen zu kanalisieren, wurde er mit künstlerischen Arrangements im Haus Vaterland beauftragt. Kempinski war also auf unterschiedlichen Ebenen mit dem Haus verknüpft; auch wenn die offiziellen Besitzverhältnisse komplizierter waren und in der Haus Vaterland Gaststätten GmbH über Kempinski hinaus die Bank für Grundbesitz und Handel als Besitzerin des Grundstücks und weitere Bankenvertreter Einfluss hatten, sollte das Haus Vaterland in der Öffentlichkeit daher vor allem als Kempinski-Betrieb angesehen werden. Dies wurde nicht zuletzt verstärkt durch die große Kempinski-Lichtreklame, die nun an der Fassade des Hauses Vaterland angebracht wurde.


Die Idee, das Haus völlig neu zu gestalten, ging auf den Vorschlag eines Mannes zurück: 1926 war Leo Kronau an die Firma Kempinski mit dem Konzept eines ungewöhnlichen, innerstädtischen Vergnügungstempels herangetreten. In der „Welt des Vergnügens“ zwischen Jahrhundertwende und den 1930er-Jahren war Leo Kronau eine zentrale und schillernde Persönlichkeit. Leider haben wir nur wenig gesicherte Informationen über ihn, nicht einmal sein Geburtsjahr ist bekannt. Kronau war ein typischer Vertreter jener trans- und internationalen Vergnügungskultur, die sich vor dem Ersten Weltkrieg im Umfeld der großen Metropolen global entfaltete. Vor allem Vergnügungsparks entwickelten sich in Europa und Nordamerika in diesen Jahren in der Nähe der Metropolen als Erholungs- und Unterhaltungsstätten einer wachsenden städtischen Bevölkerung. Seit der Industrialisierung war das Leben gerade dieser städtischen Bevölkerung stärker als zuvor in „Arbeit“ und „Freizeit“ unterschieden, während die ländliche Bevölkerung länger in einem vormodernen, von der Natur und der Landwirtschaft vorgegebenen Lebensrhythmus verankert blieb. Daher entwickelte sich gerade in der städtischen Bevölkerung ein stärkeres Bedürfnis, die als immer wichtiger erachtete „Frei-Zeit“ vergnüglich und erholsam zu gestalten, in klarem Gegensatz zur „Arbeits-Zeit“. Vergnügungsparks an den Rändern der großen Städte schufen vor diesem Hintergrund die Möglichkeit, an freien Tagen (meist nur der Sonntag) oder an Sommerabenden umfassende Ablenkung zu erleben. Diese Parks boten von einem reichhaltigen gastronomischen Angebot über Musik- und Varietévorstellungen, Ausstellungsbereiche und Tanzmöglichkeiten bis hin zu „Fahrgeschäften“ wie ersten Achterbahnen, Karussells und Wasserbahnen alles, was zur Unterhaltung beitragen konnte.

Entwickelt, aufgebaut und betrieben wurden diese Vergnügungsparks von Vertretern einer internationalen „Vergnügungselite“ (Johanna Niedbalski), deren Vertreter zwischen Europa und den USA hin- und herreisten, die wechselnde Engagements in unterschiedlichen Parks übernahmen und auf diese Weise zur Verbreitung einer globalen Vergnügungskultur über die Kontinente hinweg beitrugen. Den Kern dieses Geschäfts bildeten neben Vergnügungsparks auch die Weltausstellungen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Millionen von Besuchern anzogen. Die erste Ausstellung dieser Art wurde 1851 im Londoner Hyde Park unter dem Motto „Great Exhibition of the Works of Industry of all Nations“ gezeigt, und bis zum Ersten Weltkrieg fanden zahlreiche solcher Ausstellungen statt. Allein in Paris fanden in den Jahren 1855, 1867, 1889 und 1900 Weltausstellungen statt, Letztere zählte fast 50 Millionen Gäste. In den verschiedenen Pavillons konnten die Besucher durch sorgfältig nachgebaute „fremde“ Welten flanieren und damit eine vermeintliche „Exotik“ erleben, die in abgewandelter Form dann auch ihren Weg in die Vergnügungskultur finden sollte.

Zu dem global agierenden Personal, das diese Ausstellungen, aber auch die Attraktionen der Vergnügungsparks organisierte, gehörte auch Leo Kronau. Schon früh hatte er in die „Welt des Vergnügens“ gefunden. Vermutlich war er bereits kurz nach der Jahrhundertwende am Aufbau von Attraktionen in Vergnügungsparks auf Coney Island in der Nähe von New York beteiligt gewesen. Darunter war möglicherweise auch die berühmte „Reise zum Mond im Luftballon“, bei der man die Illusion eines Raketenfluges zu erzeugen versuchte. Die Gäste betraten ein Luftschiff mit Flügeln, die Luna. Bewegungen simulierten den Flug, Luftströme erweckten den Eindruck von Fahrtwind, Licht und Geräusche erzeugten ein künstliches Gewitter, und vor den Fenstern zogen gemalte Panoramen vorbei, die den Flug weg von der Erde zeigten. Schließlich „erreichte“ das Luftschiff die Mondoberfläche, geschickt gestaltet durch Pappmaché, Farben und glitzernde Mineralien. Hier stiegen die Gäste aus, wurden von „Mondmännchen“ empfangen und mit – grünem – „Mondkäse“ verköstigt. Diese aufwendige Illusion nahm viele Elemente vorweg, die später auch im Haus Vaterland verwendet werden sollten.

Während die Beteiligung Kronaus an diesem Fahrgeschäft nicht eindeutig geklärt ist, wissen wir sicher, dass er vor dem Ersten Weltkrieg in Wien mit Gabor Steiner, der dort seit 1895 den Vergnügungspark Venedig in Wien aufbaute, kooperierte. Hier wurde den Besuchern eine nahezu perfekte Imitation Venedigs geboten, mit Gondelfahrten, Karnevalsfeiern und Osteria-Besuchen. Auch wenn die Venedig-Imitation 1901, nach der sechsten Saison, wieder abgebaut und durch andere Attraktionen ersetzt wurde, war die Illusion einer „Reise in die Ferne“ vor Ort doch stilbildend auch für das Haus Vaterland. Auf diesem Konzept baute schließlich das gesamte Haus auf.
Leo Kronau verfügte ferner über Erfahrungen im Theater- und Varietébereich, auch darauf griff er später im Haus Vaterland zurück. 1905 inszenierte er im Londoner Hippodrome, einem Theater im West End, eine spektakuläre Show mit dem Namen America’s Lads in Blue (Amerikas Jungs in Blau), in der neben sechs Schauspielern auch 40 Soldaten auftraten, die auf der Bühne marschierten. Die Nachstellung einer Seeschlacht mit stilisiertem Bombenabwurf, die Vorführung eines Maschinengewehrs, echte Pferde und Tiernummern sowie Varietéeinlagen machten die Show zu einem für damalige Verhältnisse unglaublichen Spektakel.

Später war Kronau auch als Agent und Vermittler für große Ausstellungen tätig. Der österreichische Beitrag der Weltausstellung 1915, den er in San Francisco entwickelt hatte, konnte allerdings aufgrund des Ersten Weltkriegs nicht realisiert werden. Nach dem Krieg arbeitete Kronau schließlich Anfang der 1920er-Jahre vorübergehend im Filmgeschäft, etwa als Kreativdirektor und Drehbuchautor des Films Im Banne der Kralle, der 1921 in die Kinos kam. 1926 kam Kronau schließlich aus Wien, wo er den Vergnügungspark Kaisergarten geleitet hatte, nach Berlin und übernahm die künstlerische Leitung des dortigen Luna-Parks. Der 1909 eröffnete Luna-Park war zwar nicht der älteste Vergnügungspark in Berlin – das war die bereits 1880 eröffnete Neue Welt – und auch nicht der einzige, doch er war der größte. Gelegen am westlichen Ende des Kurfürstendamms im Übergang zum Grunewald, war dort ein altes Ausflugsgebiet seit 1904 mit einem dreistöckigen Terrassenrestaurant bebaut, das Platz für 10 000 Besucher hatte. Um dieses großgastronomische Angebot hatte sich seit 1910 der Vergnügungspark gruppiert, der den Besuchern Abwechslung und Unterhaltung bot: von Musik und Akrobaten über Fahrgeschäfte bis zu „exotischen Welten“ wie einem afrikanischen Dorf. Angesichts von Kronaus beruflicher Erfahrung im Umfeld internationaler Vergnügungsparks ist sein Engagement für den Berliner Luna-Park nicht weiter überraschend.

Bereits nach einem Jahr jedoch verließ Kronau den Luna-Park wieder, vermutlich weil er eine völlig neue Geschäftsidee entwickelt hatte: Er erkannte, dass der Nachteil der großen Ausstellungen wie etwa der Weltausstellungen ihre begrenzte Zeit war; sie fanden jeweils nur für wenige Monate statt und wurden dann abgebaut. Der Nachteil der in aller Welt so beliebten Vergnügungsparks war ihre Wetterabhängigkeit. Selbst wenn es überdachte Attraktionen in den Parks gab – letztlich waren sie ein Schönwettervergnügen und damit auf die Sommermonate beschränkt. Außerdem war die Anreise für die meisten Gäste eher ein tagesfüllender Ausflug, daher gab es in Vergnügungsparks unter der Woche oft wenig Auslastung. Warum aber sollte man nicht versuchen, die Attraktionen von Vergnügungsparks und Ausstellungen in geschlossenen Räumen anzubieten und auf diese Weise neue Formen des Vergnügens zu entwickeln, unabhängig von Jahreszeit und Wetter? Selbstredend war es nicht möglich, große Fahrgeschäfte in geschlossenen Gebäuden unterzubringen. Doch andere in Vergnügungsparks beheimatete Elemente wie Restaurations-, Musik- und Unterhaltungsangebote, die mit „Exotik“ geschmückt dem Besucher ein umfassendes Erlebnis boten, waren sehr wohl auch in Innenräumen darzubieten. Das war der Kern von Kronaus neuer Geschäftsidee.

Von ähnlichen Revue- und Varietétheatern, von den üblichen Tanzlokalen und Restaurants sollte sich das von Kronau skizzierte Etablissement vor allem durch die Größe und Breite des Angebots unterscheiden: Nicht ein Restaurant, nicht ein „exotisches“ Dorf, nicht nur eine Musikdarbietung sollte hier angeboten werden, sondern ein ganzes Haus, eine ganze „Welt“ mit verschiedensten Attraktionen sollte die Gäste einen ganzen Abend über mit immer neuen Erlebnissen unterhalten. Kronaus Idee war gewissermaßen die Quintessenz seiner jahrelangen Erfahrung in der „Welt des Vergnügens“ (Johanna Niedbalski). Er wusste, was den Menschen gefiel, und er wusste auch, womit man Geld verdienen konnte. Um diese Idee zu verwirklichen, verließ Kronau den Luna-Park. Doch ihm fehlte noch ein Financier – heute würde man sagen: ein Investor – zur Realisierung seiner innovativen Geschäftsidee, am besten jemand, der über Erfahrungen im Bereich der Massengastronomie auf gehobenem Niveau verfügte und den angedachten Dimensionen von Kronaus Idee logistisch und finanziell gewachsen war. Zielsicher wandte sich Kronau an die Firma, die in Berlin seit Jahren einer der ganz großen „Player“ in der Gastronomie- und Restaurationswelt war und sich mit luxuriösen Groß-Restaurants einen Namen gemacht hatte: Kempinski.


Das Text ist ein Auszug aus Vanessa Conzes Buch:
Haus Vaterland. Der große Vergnügungspalast im Herzen Berlins. (2021)
Hier geht es direkt zum Buch ->
Das obere Bild stammt von einem Cover einer Werbebroschüre des Haus Vaterland aus den Dreißigerjahren.

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