Berlin ist ein Brennpunkt der Kirchengeschichte. Seit dem Mittelalter haben Missionare und Priester, Reformatoren und Diakone Einfluss auf die Geschicke der Stadt genommen. Klaus Fitschen zeigt in seinem neuen Buch Berliner Kirchengeschichte, wie die Religion das mittelalterliche Berlin bestimmte, wie die Reformation in Berlin und Brandenburg ablief und welche Kämpfe in der Folge auszustehen waren. Die sozialen und politischen Veränderungen im 19. und 20. Jahrhundert waren Herausforderungen für Katholiken und Protestanten, die eindringlich und mit vielen Bildern geschildert werden.

Lassen Sie uns einen Blick in das Buch werfen, wir schlagen es auf und landen im Kapitel „Kirche und Theologie im 19. Jahrhundert“.

 

Die Erweckungsbewegung und der protestantische Konservativismus

Die Erweckungsbewegung hatte sich seit ihren Anfängen im späten 18. Jahrhundert zu Beginn des 19. Jahrhunderts schnell in Berlin fest etabliert. Zu ihrer Identität gehörte eine antiaufklärerische Tendenz, und so sah sie den Rationalismus als ihren Hauptgegner an. Freilich verlor die Aufklärung im Verlauf der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts ohnehin schnell an Einfluss, wenn sie auch nach wie vor in der Pfarrerschaft und auch in der Bevölkerung eine gewisse Präsenz hatte. Sie als unchristlich und politisch unzuverlässig zu denunzieren, erschien nach der Französischen Revolution logisch. So wurden ihre Anhänger marginalisiert und – dies galt auch für Theologieprofessoren – mundtot gemacht. Aus Sicht der Erweckungsbewegung (und auch vieler, die später über die Erweckungsbewegung schrieben), schien die Aufklärung jedenfalls der Hauptgrund für den schon länger diagnostizierten Schwund des Christlichen zu sein. Im immer reaktionärer werdenden Umfeld seit dem Wiener Kongress galt die Erweckungsbewegung als die bessere politische Alternative. Querverbindungen ergaben sich zwischen Erweckung und Romantik: Clemens Brentano sympathisierte in seinen Berliner Jahren mit der Erweckungsbewegung, was ihn letztlich wieder in den Schoß der katholischen Kirche zurückführte.
Ernst von Kottwitz, der schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch seine sozialen Aktivitäten hervorgetreten war, wurde zu einer Schlüsselfigur eines ganzen Kreises von Anhängern der Erweckungsbewegung, die ihren Einfluss stetig ausbauten und damit den preußischen Staat in seinem Einfluss auf Christentum und Kirche stärkten – umgekehrt wurden von konservativer Seite Christentum und Kirche als staatstragende Kräfte und als Bollwerk gegen revolutionäre Umtriebe angesehen.
Die Erweckungsbewegung reichte weit über kirchliche Kreise hinaus und beeinflusste auch in Berlin ansässige Landadlige, Offiziere oder Bürger. Man sammelte sich in einer Art frommer Salonkultur, las die Bibel und pflegte das religiöse Erleben. Der erweckliche Lebensstil mied wie der pietistische das, was man als weltliche Vergnügungen ansah. So predigte Karl Löffler, Pfarrer an der Spittelkirche (Gertraudenkirche), gegen Tanz und Theater und beeinflusste damit, so nahm man es wahr, vor allem junge Frauen. Als die Bewegung um Löffler überhandnahm, wurde er aus Berlin verbannt.

Johannes Evangelista Goßner auf einem zeitgenössischen Holzstich © akg-images

Ein bis heute durch die „Goßner-Mission“ bekannter Vertreter der Erweckungsbewegung in Berlin war Johannes Evangelista Goßner. Er war katholischer Priester gewesen, hatte sich in der im Allgäu sehr aktiven katholischen Erweckungsbewegung engagiert und war über manchen Umweg zu dem Entschluss gekommen, evangelisch werden zu wollen. Nachdem er 1826 konvertiert war, bewarb er sich umgehend um eine Pfarrstelle in Berlin. Der durchaus prominente Konvertit wurde von seinen neuen Pfarrerskollegen nicht gerade willkommen geheißen und musste sich anfangs mit kirchlichen Hilfsdiensten begnügen. Dies brachte ihn in verschiedenen Berliner Kirchengemeinden in Kontakt mit den Armen, und daraus erwuchs, so wie bei vielen Anhängern der Erweckung, auch bei ihm soziales Engagement. 1829 konnte Goßner schließlich eine reguläre Pfarrstelle an der Bethlehemskirche erlangen, wo er der Nachfolger Johannes Jänickes wurde, der 1827 gestorben war. Anstelle Jänickes wurde Goßner auch in das Komitee der Berliner Mission berufen. Im Jahre 1836 gründete er seine eigene Missionsgesellschaft. Durch seine vielfältigen Aktivitäten, die weit über das hinausgingen, was ein evangelischer Pfarrer in dieser Zeit sonst tat, war er in der Stadt weithin bekannt als Prediger, Organisator und Seelsorger.
Ein wesentliches Organ der Berliner Erweckungsbewegung war die von dem Exegeten und Publizisten Ernst Wilhelm Hengstenberg seit 1827 herausgegebene „Evangelische Kirchenzeitung“, die wie ihr Herausgeber dezidiert lutherisch ausgerichtet war. Sie galt als Sprachrohr eines staatstragenden, antiaufklärerischen Protestantismus. Hengstenberg und seine Zeitung wurden als reaktionär attackiert, auch schon von einer neuen theologisch modernen Strömung, die auf die Aufklärung folgte und in der zweiten Jahrhunderthälfte in den liberalen Protestantismus mündete. Ebenso positionierte sich das Blatt gegen die Schüler Hegels, die als Atheisten und Pantheisten dargestellt wurden, was vor allem die „Linkshegelianer“ betraf. Der wesentliche Auslöser für den konservativen Antihegelianismus war das Buch „Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet“ des Hegel-Schülers David Friedrich Strauß. Als das Buch 1835 erschien, löste es einen Skandal aus. Damit begann auch das Zeitalter einer offenen Religionskritik, die zwar von Staat und Kirche bekämpft wurde, aber sich immer wieder neu manifestierte und in der sozialistischen Bewegung schließlich auch politisierte.
Zum Kreis um Hengstenberg gehörten einflussreiche Personen wie der Jurist und Politiker Ernst Ludwig von Gerlach und seine Brüder Leopold und Otto, die als General und Pfarrer eng mit dem Staat verbunden waren. Freilich war die Zugehörigkeit zur Erweckungsbewegung auch nicht automatisch karrierefördernd, denn Pfarrstellen gab es für den Theologennachwuchs eher zu wenige. So musste auch Otto von Gerlach einige Jahre nach einer Stelle suchen. Dabei kam ihm zugute, dass am Rande der wachsenden Stadt neue Kirchen gebaut wurden. 1835, mit 34 Jahren, erhielt er die Pfarrstelle an St. Elisabeth, einem schlichten Schinkel-Bau in der Invalidenstraße, der immerhin 1200 Personen fasste – die Vorstädte Berlins wuchsen rasant. Auch hier ergab sich wieder eine Querverbindung von Erweckung und Sozialem Protestantismus.

Die Satirezeitschrift »Kladderadatsch« machte sich 1849 unter dem Titel »Der neue Peter von Amiens und die Kreuzfahrer« über Bismarck, Gerlach und Stahl lustig: »Es hält Sankt Stahl des Esels Zaum, Sankt Gerlach führt die Truppen. Zur Seite steht Herr Bismarck treu, der Erzschelm in Panzer und Schuppen.« © akg-images

Ernst-Ludwig von Gerlach hatte die Evangelische Kirchenzeitung mit begründet und war auch einem weiteren Publikationsorgan eng verbunden: der 1848 erstmals erschienenen „Neuen Preußischen Zeitung“ nämlich, die aufgrund des Eisernen Kreuzes in ihrem Titelkopf als „Kreuzzeitung“ bekannt war. Ein anderer Angehöriger dieses Kreises war der Jurist Friedrich Julius Stahl – ein Sohn jüdischer Eltern im Übrigen, der sich als junger Mann hatte taufen lassen. Erst dadurch stand ihm eine akademische Karriere offen, allerdings hatte er diesen Schritt aus religiösen Gründen sehr bewusst getan. Im Jahre 1840 war er auf Wunsch König Friedrich Wilhelms IV. an die Universität Berlin berufen worden, um dort gegen den Rationalismus und die Anhänger der Philosophie Hegels vorzugehen. Dafür erntete er heftige Kritik in der Studentenschaft. Auch Stahl arbeitete später bei der „Kreuzzeitung“ mit.
Diese Männer bildeten also in Berlin den harten Kern eines konservativen evangelischen Christentums, das von einem festen Bündnis von Thron und Altar ausging. Zugleich waren sie entschiedene Lutheraner, die die Unionspolitik des preußischen Staates kritisierten. Darum wurden sie wiederum von den Anhängern der Union angefeindet, wobei es auch genügend Lutheraner gab, die die Union guthießen. Ihre (jedenfalls für sie) große Stunde schlug dann in der Revolution des Jahres 1848, in der sie sich als feste Stütze der monarchischen Herrschaft erwiesen, und dem diente auch die im Juni des Revolutionsjahres gegründete „Kreuzzeitung“. Mit dem Thronwechsel des Jahres 1840 von Friedrich Wilhelm III. zu dessen Sohn Friedrich Wilhelm IV. fühlte sich der Kreis bestätigt, denn tatsächlich war der neue König von der Idee eines christlichen Staates angetan und betrieb eine entschieden konservative Politik. Auch sein Vater hatte sich bereits der Erweckungsbewegung verbunden gewusst.

 

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Prof. Dr. Klaus Fitschen lehrt Kirchengeschichte an der Universität Leipzig. Er hat zahlreiche wissenschaftliche und populäre Bücher verfasst. Im Palm Verlag erschien zuletzt sein Buch Wie die Deutschen Christen wurden. Geschichte der Mission.

Die Leseprobe entstammt seiner Publikation Berliner Kirchengeschichte, 176 Seiten, rund 100 Abbildungen, Elsengold Verlag Verlag, € 29,95.

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