“In den Enklaven gibt es wiederum Enklaven und manchmal in diesen noch weitere – das erinnert an russische Matrjoschkas: eine Puppe in der Puppe in der Puppe.”

Enklaven (oder aus der Gegensicht: Exklaven) stellen sich als gar nicht seltener Sonderfall unter den Borderlands dar. Sie sind in der Regel nicht sehr ausgedehnte Gebiete, die geografisch nicht mit dem Staat, zu dem sie gehören, verbunden sind. Vielmehr werden sie von einem anderen Staat vollständig umschlossen und können nur (jedenfalls auf dem Landweg) über dessen Territorium erreicht werden. Wie sehr die Bevölkerung einer Enklave isoliert ist, darüber entscheidet das Verhältnis zwischen den beiden involvierten Staaten – dem, zu dem die Enklave staats- und völkerrechtlich gehört, und dem, innerhalb dessen Territorium sie liegt. Das Schicksal der Enklaven in Groß-Berlin konnte zum Beispiel erst konstruktiv beeinflusst werden, als der Kalte Krieg zwischen Ost und West und die Eiszeit zwischen den beiden deutschen Staaten zu Beginn der 1970er-Jahre von der Entspannungspolitik temperiert wurden (siehe Kapitel drei).

In der Vergangenheit, besonders während der Zeit des Feudalismus in Europa, hat es recht viele Enklaven gegeben. Das bereitete den Bewohnern solcher Ländereien in der Regel keine besonderen Probleme. Man kann sich jedoch leicht vorstellen, dass Enklaven in Zeiten des überbordenden Nationalismus (und er war ja im 19. und 20. Jahrhundert meistens überbordend) mit viel mehr Schwierigkeiten zu kämpfen hatten. Auch in der Gegenwart gibt es gar nicht wenige Enklaven. Einige davon befinden sich in einer sehr unglücklichen Situation. Das folgende Beispiel kann das illustrieren.

Indien, Pakistan und das heutige Bangladesch gehörten über mehrere Generationen hinweg als koloniale Einheit zum britischen Empire. Als Indien 1947 unabhängig wurde, stiegen die internen Spannungen so weit an, dass zwei Staaten entstanden: das mehrheitlich hinduistische Indien und das mehrheitlich muslimische Pakistan. Pakistan wiederum setzte sich aus zwei nicht miteinander verbundenen Landesteilen zusammen, einem westlichen und einem östlichen. 1971 löste sich der Ostteil von Pakistan ab und wurde ein selbständiger Staat – Bangladesch. Bis auf einen kleinen Grenzstreifen zu Burma (Myanmar) ist Bangladesch von indischem Territorium umgeben.

An der Nordgrenze von Bangladesch zu Indien gibt es heute fast 200 Enklaven, größere und kleinere, indische Enklaven auf dem Territorium Bangladeschs und bengalische Enklaven auf dem Territorium Indiens. Deren Existenz geht auf die Übergangsphase zwischen der feudalen Mogulherrschaft in Indien und der britischen Kolonialherrschaft zurück. Das kam so: Nach einem längeren Krieg zwischen den (muslimischen) Mogulkönigen und dem (hinduistischen) Maharadscha von Cooch Behar wurden die gegenseitigen Feindseligkeiten im Jahr 1713 infolge allseitiger Erschöpfung eingestellt. Als gesichtswahrende Klausel des Friedensabkommens wurde festgehalten, dass jeder Kriegsteilnehmer das Land, das er am Tage des Friedensschlusses gerade militärisch kontrollierte, behalten durfte. Die Briten, die ab Mitte des 18. Jahrhunderts in Indien Fuß fassten, änderten diesen unübersichtlichen, aber irgendwie allseits akzeptierten Flickenteppich territorialer Zugehörigkeit nicht; sie hatten eh schon genug Konflikte am Hals. Was sie jedoch sozusagen auf ganz unschuldige Weise perfektionierten, das war die haargenaue kartografische und damit staatsrechtliche Protokollierung dieses Durcheinanders. Während es vorher in der religiös und politisch gemischten Region auf die feudalen Besitz- und Grenzverhältnisse nicht so genau angekommen war, denn sie berührten das Alltagsleben der Menschen nur am Rande, änderte sich das drastisch gegen Ende der Kolonialzeit und im konfliktintensiven Ausbildungsprozess der beiden neuen Staaten Indien und Pakistan. 1949 optierte die mehrheitlich hinduistische Bevölkerung des Minikönigreichs Cooch Behar für einen Anschluss an Indien; die bisherigen Enklaven von 1713 fielen dabei an Ostpakistan und zu Beginn der 1970er-Jahre an Bangladesch. Komplizierter wird die Angelegenheit noch dadurch, dass es in den Enklaven wiederum Enklaven und manchmal in diesen noch weitere Enklaven gibt – das erinnert an russische Matrjoschkas: eine Puppe in der Puppe in der Puppe. Nur dass die jeweils kleinere Puppe zum jeweils anderen Staat gehört.

Je nachdem aus welcher Perspektive man diese Entwicklung betrachtet, stellt sie entweder ein relativ leicht zu lösendes politisch-administratives Problem dar oder ein nachgerade unlösbares. Zwischenzeitlich schien es so, als würden sich Indien und Pakistan auf einen Austausch der Enklaven einigen können. Dann kam es zum innerpakistanischen Bürgerkrieg (unter heftiger indischer Beteiligung), und alle Annäherungsversuche fielen zunächst einmal auf den Stand null zurück. 1974 wurde ein neues Abkommen erreicht. Es ist bis heute vom indischen Parlament nicht ratifiziert worden. Und seit Indien vor ein paar Jahren damit begonnen hat, an seiner Grenze zu Bangladesch einen Zaun zu errichten, ist die Lage in den Enklaven noch schwieriger geworden.

Für die dort lebenden Menschen bedeutet das nämlich letztlich nichts anderes, als dass sie praktisch in einer staatsfreien Zone leben. Indien behandelt seine Bürger in den eigenen Enklaven auf dem Territorium von Bangladesch nicht als gleichberechtigte Staatsbürger und verweigert ihnen seine infrastrukturelle Unterstützung. Bangladesch hingegen fühlt sich nicht aufgefordert, seinerseits diese Unterstützung zu leisten. Folglich leben die Bewohner der Enklaven in einem Raum ohne staatliche Autorität zur Aufrechterhaltung der Ordnung. In den meisten Enklaven gibt es keine Elektrizität, keine geregelte Wasserversorgung, keine Telefondienste, keine Märkte, keine Schulen, keine Krankenstationen. Es gibt im Grunde keine Gesetze, weil es an Polizei und Gerichten mangelt, um sie durchzusetzen. Die Bewohner müssen alles selbst auf die Beine stellen, was ihnen oft genug misslingt.

Was sich für hartgesottene Großstadtanarchisten aus der Ferne trotz aller Härten vielleicht wie ein Idealzustand anhört, stellt sich für die betroffenen Menschen ganz anders dar: Ihre Lebensumstände werden künstlich primitiv gehalten und ungemein erschwert. Nachdem viele indische Bürger, sobald sie konnten, aus ihren Enklaven in Bangladesch abgewandert waren, sickerten mittellose Bangladeschi in dieses Land ein, in dem sie nun illegal und ungeschützt ihren Lebensunterhalt zu verdienen versuchen. Aber die Menschen sind arm, und wie können sie zum Beispiel eine Schule unterhalten, wenn weder Indien noch Bangladesch das Gehalt für einen Lehrer zur Verfügung stellen und im Übrigen eifersüchtig darüber wachen, dass keine internationale humanitäre Organisation hier einspringt?

 

Autor dieses Artikels: Prof. Dr. Dr. h.c. Wilfried von Bredow war Professor für internationale Politik an der Philipps-Universität Marburg, Research Fellow in Oxford und Gastprofessor in Toulouse, Toronto, North Manchester, Saskatoon und Lille. Zahlreiche Veröffentlichungen, vor allem zur Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands, dem Ost-West-Konflikt, Kanadas internationaler Rolle und politischer Theorie des 19. und 20. Jahrhunderts. Prof. von Bredow schreibt regelmäßig für FAZ, NZZ und die WELT.

 

Der Textauszug ist folgender Publikation entnommen: „Grenzen. Eine Geschichte des Zusammenlebens vom Limes bis Schengen“, Theiss Verlag 2014. Dieses Buch wurde realisiert von der Palmedia Publishing Services GmbH.

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