Caroline Eichler versorgte als Bandagistin kriegsverletzte Soldaten. Angetrieben von ihren Erfahrungen entwickelte sie 1832 eine bahnbrechende Prothese und bekam dafür als erste Frau in Preußen ein Patent 

Von Helga Tödt 

Man weiß von einem 2.300 Jahre alten Holzbein aus China, von einer Zehenprothese aus dem alten Ägypten, von den Stelzfüßen der Piraten – Prothesen für verlorene Gliedmaßen waren schon immer vonnöten.

Der wahrscheinlich berühmteste Prothesenträger der deutschen Geschichte war Götz von Berlichingen (1480–1562). Der fränkische Reichsritter verlor 1505 durch eine Schussverletzung seine rechte Hand. Er ließ sich daraufhin von einem Dorfschmied eine eiserne Kunsthand anfertigen, deren Mechanismus er sich während seines Krankenlagers selbst ausgedacht hatte. 1530 ließ er sich eine verbesserte zweite Hand bauen. Die Konstruktion war so ausgeklügelt, dass sie sogar die Bewegung der Finger ermöglicht haben soll.

Erstaunlicherweise war es eine junge Frau, die 1832 als Erste eine bewegliche Beinprothese konstruierte und dafür als erste Frau in Preußen auch ein Patent erhielt. 1836 konstruierte sie außerdem die erste willkürlich bewegbare Handprothese, die ebenfalls patentiert wurde.

Über Caroline Eichler ist wenig bekannt. Sie wurde im Jahr 1808 in Nordhausen als dritte Tochter des Malers Johann Gottlieb Eichler geboren. Sie muss eine gute Schulausbildung erhalten haben, denn ohne gute Kenntnisse in Physik, Mechanik und Anatomie wären ihr ihre wegweisenden Erfindungen nicht geglückt.

Als 17-Jährige war Caroline in Berlin als Kindermädchen zur Familie von F. Sperling gekommen. Sperling war Koch am königlichen Hof. Danach kam die junge Frau als Krankenpflegerin und Bandagistin mit Kriegsveteranen aus den Befreiungskriegen in Kontakt. Sie erlebte, wie diese durch ihre Behinderung ein jämmerliches Dasein fristeten.

Nur wenige Verwundete erhielten auf dem Schlachtfeld eine medizinische Erstversorgung. Bei schweren Arm- oder Beinverletzungen blieb fast immer nur die sofortige Amputation, denn die drohenden Wundinfektionen führten ohne Amputation fast immer zum Tode. Diese Amputationen wurden ohne Betäubung durchgeführt.

Jeder Dritte der Verwundeten starb schon auf dem Transport, eine große Anzahl in den Lazaretten. Der tägliche Umgang mit den amputierten Invaliden veranlasste die 20-jährige Bandagistin, sich ausführlicher mit möglichen Beinprothesen zu befassen.

Zuerst studierte sie die Veröffentlichungen des Arztes Albert Ludwig Dornblüth aus Plau am See. Er hatte für einen mecklenburgischen Musketier, dem das linke Bein am Oberschenkel als auch der rechte Unterschenkel amputiert worden war, eine prothetische Versorgung entwickelt. Seine Konstruktionspläne hatte er im Journal der practischen Heilkunde von Christoph Wilhelm Hufeland, Direktor der Charité, veröffentlicht.

Nach 4 Jahren konstruierte Caroline Eichler 1832 ihre erste eigene Prothese für den Ober- und Unterschenkel. Sie hatte eine bessere Passform als die bisher bekannten. Außerdem verfügte sie über ein bewegliches Kniegelenk, was die Voraussetzung für ein natürliches und bequemes Gehen war. Sie bestand aus einem Oberschenkelschaft aus Weißblech, Messing oder Neusilberblech, der relativ einfach an den Stumpf angepasst werden konnte. Daran setzte ein hohl gearbeiteter Unterschenkel aus Linden-, Weiden- oder Pappelholz an, der über ein Gelenk mit einem Fuß aus Holz verbunden. Im Vergleich zu früheren Massivholzkonstruktionen war Eichlers Beinprothese deutlich leichter. Sie wog komplett nur etwa 2,1 Kilogramm.

Das Kniegelenk wurde durch auf Druck reagierende Spiralfedern bewegt. Durch diesen Mechanismus konnte sich das Knie beim Gehen beugen, und die Federn brachten es beim Anheben wieder in die gestreckte Ausgangslage zurück. Statt Gehstützen benötigte der Prothesenträger nach einer Eingewöhnung von ein bis zwei Wochen nur noch in unebenem Gelände einen Gehstock. Meist war ihm das Gehen und selbst das Treppensteigen ohne Stock möglich.

Eichlers Beinprothese mit mechanischem Kniegelenk aus der Patentschrift von 1834

1833 richtete Caroline Eichler ihr Patentgesuch an König Friedrich Wilhelm III. Danach unterzog eine Gutachterkommission des preußischen Ministeriums für Medizinalwesen und eine weitere des Handelsministeriums die Beinprothese einer gründlichen Prüfung. Die Allgemeine Preußische Staats-Zeitung berichtete: „Der unverehelichten Karoline Eichler hierselbst ist unterm 23. November 1833 ein auf Zehn Jahre, (…) und für den ganzen Preußischen Staat gültiges Patent auf ein künstliches Bein zum Ersatze des Ober- und Unter-Schenkels ertheilt worden“.  

Caroline Eichler war damit die erste Frau in Preußen, die überhaupt ein Patent erhielt. Für ihre Beinprothese warb sie 1834 mit einer im Selbstverlag herausgegebenen Schrift Beschreibung und Abbildung eines neuerfundenen künstlichen Fusses, zum Ersatze des Ober- und Unterschenkels.

Zahlreiche Ärzte gaben ihr Empfehlungsschreiben, auch der Generalstabsarzt Johann Wilhelm von Wiebel. Auch der Leiter der Chirurgie an der Berliner Charité Johann Friedrich Dieffenbach berichtete vom erfolgreichen Einsatz der Eichlerschen Fußprothese und lobte ihre Konstruktion.

Da die Nachfrage nach Prothesen stetig anstieg, gründete Caroline Eichler einen eigenen Betrieb als „Verfertigerin künstlicher Füße und Hände“. Die Werkstatt befand sich Unter den Linden und sicherte ihr ein gutes Einkommen.  Doch in der zeitgenössischen Literatur wurde Eichler als „Blaustrumpf“ verunglimpft, da sie als Unternehmerin nicht dem gängigen Frauenbild des Biedermeiers entsprach.

Als nächstes befasste sich Caroline Eichler mit der ungleich schwierigeren Konstruktion einer Unterarm- und Handprothese. Dabei orientierte sie sich an der Publikation des Berliner Zahnarztes und Chirurgie-Technikers Peter Baliff. Baliff kam als erster auf die Idee, die noch vorhandene Kraft des amputierten Arms zu nutzen, um eine Handprothese zu bewegen. Seine Konstruktion aus Messingblech wog mit Halteriemen nur 500 Gramm, also etwa ein Drittel der „Götz-Hand“, die Finger der Kunsthand konnten zwar aktiv geöffnet werden, sie mussten aber passiv – unter Zuhilfenahme der anderen Hand –geschlossen werden.

Caroline Eichler wandte das Prinzip Baliffs umgekehrt an. Bei ihrer Handprothese war die Kraft der Bewegung besser zu dosieren. Durch Spiralfedern aus Neusilberdraht, je eine in jedem Fingergelenk, wurden die Finger wieder gestreckt. Das war ein genialer Einfall, der den natürlichen Bewegungsabläufen folgte.

Außerdem verfügte Eichlers Kunsthand über einen beweglichen, oponierbaren Daumen, der den Pinzettengriff ermöglichte. Eichlers Handprothese wog nur 125 Gramm und war aus Neusilberblech gefertigt. Sie war die erste brauchbare, willkürlich zu bedienende Eigenkraftprothese für den Unterarm. Auch für diese Erfindung erhielt Caroline Eichler 1836 ein Patent.  Nach Eichlers Angaben konnten die Nutzer damit schreiben, nähen, sticken und sogar Geige und Gitarre spielen. Selbst das Tragen von Lasten bis zu 9 kg war möglich.

Eichlers feinmechanische Kunstwerke hatte aber auch ihren Preis. Sie kosteten 75 bis 100 Taler. Das entsprach etwa Dreiviertel des Jahreseinkommens eines Arbeiters oder einem halben Jahreseinkommen eines Handwerksmeisters.  Die Prothesen blieben also eine Kostbarkeit für eine kleine vermögende Oberschicht.

Caroline Eichlers erste von eigener Kraft zu betätigende Handprothese von 1836

Das einzige Bild, das von Caroline Eichler überliefert ist, zeigt eine energische, streng blickende junge Frau. Mit 29 Jahren heiratete sie den sieben Jahre jüngeren Mechaniker Eduard Krause aus Bielefeld. Die Ehe verlief nicht glücklich und wurde bald wieder geschieden, weil der Ehemann „stark dem Trunke ergeben war“. Danach verfolgte Krause seine geschiedene Frau mit Drohungen und verlangte immer wieder Geld von ihr.

Das Leben der begabten Feinmechanikerin endete fünf Jahre später auf tragische Weise. Am 6. September 1843 drang der geschiedene Ehemann in Carolines Wohnung ein. Es kam zu einem heftigen Streit, bei dem Krause die 35-jährige Caroline mit einer zugespitzten Feile erstach, wie die Polizeiakte von 1843 berichtet.

Welch wertvolle Prothesen hätte diese geniale Orthopädietechnikerin mit ihrem großen Verständnis für Bewegungsabläufe noch konstruieren können! Sie hat Normen für den Bau von künstlichen Gliedmaßen geschaffen, die in Deutschland und im Ausland richtungsweisend waren.


Der Text ist eine Kurzfassung eines Kapitels aus dem Buch “Spione, Erfinder, Unternehmer”:

Andreas Bödecker, Helga Tödt
Spione, Erfinder, Unternehmer
Preußens Industrialisierung in Lebensbildern
640 Seiten, 17,5 x 24,5 cm, Broschiert, ca. 200 farbige Abbildungen
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