In seinem  reich bebilderten Band Neuberliner führt der Historiker Tobias Allers durch die wechselhafte Migrationsgeschichte Berlins, von den ersten Siedlern in den mittelalterlichen Kaufmannssiedlungen bis zu den türkischen und vietnamesischen Gastarbeitern im geteilten Berlin, von den französischen und böhmischen Glaubensflüchtlinge in der kurfürstlichen Residenzstadt bis zu den muslimischen Bürgerkriegsflüchtlingen in der pulsierenden Millionenmetropole unserer Tage. Und er zeigt: Berlin ist eine Erfolgsgeschichte der kulturellen Vielfalt!

 

In unserer Leseprobe geht Tobias Allers der Frage nach, aus welcher Motivation heraus und auf welchen Wegen Menschen nach Ostberlin gelangen. Und wie erging es ihnen vor Ort?

 

Migration nach Ostberlin

Ostberlin hatte gegenüber dem westlichen Teil der Stadt gleich mehrere Standortvorteile. Es war zum einen nicht von seinem Umland abgeschnitten, wodurch die Versorgungslage besser war und ein größerer Absatzmarkt zur Verfügung stand. Zum anderen war Ostberlin trotz des Viermächtestatus zur Hauptstadt der DDR erhoben worden, was der Stadt mit ihren sozialistischen Vorzeigeprojekten, wie zum Beispiel der Stalinallee (heute Karl-Marx-Allee), zu einem gewissen Glanz verhalf. Nach einem vorübergehenden Bevölkerungsrückgang zwischen 1946 und 1961 stiegen die Einwohnerzahlen Ostberlins seit dem Mauerbau bis 1989 kontinuierlich um insgesamt 200.000 auf rund 1,3 Millionen an. Das ist insofern beachtlich, als die Bevölkerung in der gesamten DDR während der gleichen Zeit um sechs Prozent schrumpfte. Im Westteil der Stadt stiegen die Zahlen hingegen bis 1961 an und stagnierten anschließend sogar leicht.

Es migrierten weitaus weniger Menschen in die DDR als nach Westdeutschland. Dennoch gab es mit Studierenden, Arbeitern und Arbeiterinnen aus sozialistischen Bruderstaaten sowie den Besatzern sehr wohl Ausländer in der DDR.

Junge Pioniere im Gespräch mit einem sowjetischen Soldaten, 1954 © akg-images

Die größte Gruppe waren zweifellos die sowjetischen Besatzer. Im Jahr des Mauerfalls waren fast 340.000 Soldaten und 200.000 Angehörige im Land. In Ostberlin waren sie in der ehemaligen Pionierschule der Wehrmacht in Karlshorst untergebracht. „Russenkaserne“ wurden die weitgehend abgeriegelten Gebäude von nun an im Volksmund genannt. Selbst zur angeschlossenen Siedlung, wo die Angehörigen lebten, hatte man kaum Zutritt. Weder die Bevölkerung noch die SED-Führung wusste genau, wie viele Russen tatsächlich in der DDR stationiert waren. Im Falle einer Bedrohung hatten sie in der gesamten DDR das Oberkommando und durften jede Maßnahme ergreifen, die sie zur eigenen Sicherheit als nötig erachteten. Das Verhältnis der Bevölkerung zu den russischen Besatzern war nicht zuletzt deshalb sehr ambivalent. Die Nachkriegsjahre waren zudem vor allem von Plünderungen, hohen Reparationen, Deindustrialisierung und vielfach auch von Gewalt geprägt.

Neben den Besatzungstruppen waren Vertragsarbeiter die größte Ausländergruppe in der DDR. Durch die Flucht vieler junger DDR-Bürger waren Arbeitskräfte in Ostdeutschland ebenfalls Mangelware. Daher wurden zusätzliche Arbeiter aus sozialistischen Bruderstaaten angeworben, wie aus Vietnam, Kuba, Ungarn, Mosambik, Angola und Algerien. Diese „Arbeitskräftekooperation“ diente offiziell dazu, die ausländischen Arbeiter auf den Aufbau des Sozialismus in ihrer Heimat vorzubereiten. Ihre persönlichen Interessen waren dem Wohl des Sozialismus untergeordnet, was sich im Umgang mit ihnen widerspiegelte. Sie lebten strikt abgegrenzt nach strengen Regeln in Gemeinschaftsunterkünften. Jede Person hatte fünf Quadratmeter zur Verfügung, es wurde nach Geschlechtern getrennt – selbst bei Ehepartnern – und der Betrieb hatte Einlasskontrollen durchzuführen. Insgesamt stellten sie etwa einen Prozent der DDR-Arbeiterschaft, Ende 1989 waren das 94.000 Arbeiter. Fast zwei Drittel davon kamen aus Vietnam.

Ähnlich wie die „Gastarbeiter“ in Westdeutschland waren die Vertragsarbeiter in erster Linie für solche Arbeiten vorgesehen, für die sich nur noch schwer Einheimische finden ließen: Schichtarbeit, schwere körperliche Arbeit oder monotone Maschinenarbeit. Ein Aufbegehren gegen die Arbeitsbedingungen wurde in der Regel durch Drohungen mit der Polizei oder der Zwangsrückkehr beantwortet. Weil ihr Aufenthalt zeitlich begrenzt war, versuchten viele die Normen überzuerfüllen, um mehr Waren aus der wirtschaftlich stärkeren DDR in ihr Heimatland schicken zu können. Das schürte wiederum Konflikte mit der übrigen Belegschaft, die im Verhältnis schlechtere Ergebnisse erzielte.

Die ausländischen Arbeiter lebten nach staatlicher Verordnung weitgehend abgeschirmt von der übrigen Bevölkerung. Nähere Kontakte waren genehmigungs- und meldepflichtig. Als besonders problematisch erwiesen sich Liebesbeziehungen zu Einheimischen. So durften beispielsweise ausschließlich polnische Frauen in der DDR entbinden, alle anderen mussten entweder abtreiben oder wurden zurückgeschickt. War der Kindsvater Ausländer, wurde er oft erst gar nicht gemeldet, um ihm Schwierigkeiten zu ersparen. Für eine Heirat war die Erlaubnis beider Staaten einzuholen, was sich in der Praxis als äußerst kompliziert erwies. Vietnam ging ab den späten 1980er-Jahren dazu über, von Heiratswilligen je nach Qualifikationsgrad ein Lösegeld zu fordern.

Zwischen 1951 und 1989 erlangten rund 70.000 Studierende aus 125 Staaten Abschlüsse an ostdeutschen Bildungseinrichtungen, was etwa drei Prozent aller Abschlüsse ausmachte. Viele von ihnen studierten in Ostberlin, wo ihr Anteil mit fast zehn Prozent deutlich höher war als im Rest der DDR. Es kamen jedoch längst nicht alle aus sozialistischen Staaten, im Gegenteil: Die DDR betrieb eine Imagewerbung, die zeigen sollte, dass jeder dort studieren könne – im Jahr 1988 galt dies zum Beispiel für über 100 US-Amerikaner. Eine Besonderheit war, dass der Staat hierbei für sämtliche Ausbildungskosten aufkam. So weltoffen, wie sich das zunächst darstellte, sah der Alltag dagegen selten aus. Ausländische Studierende wurden im Wohnheim meist auf eigenen Etagen untergebracht, um den Kontakt zu den übrigen Studierenden nach Möglichkeit zu unterbinden. Fachliche Diskussionen waren erwünscht, der private Kontakt jedoch nicht. Eheschließungen sollten ebenfalls nicht stattfinden, weil diese einen Hinderungsgrund für die Ausländer darstellten, nach dem abgeschlossenen Studium in ihr Heimatland zurückzukehren. Paare und Familien wurden auseinandergerissen und der positive Effekt, den sich die SED-Regierung von den ausländischen Studierenden vor allem für das Ansehen der DDR im nichtsozialistischen Ausland versprochen hatte, verpuffte. Viele Absolventen fanden nun allerdings in Westdeutschland Arbeit, weshalb paradoxerweise gerade die Bundesrepublik von der kurzsichtigen Politik der DDR-Führung profitiert haben könnte.

Eine weitere Gruppe von Einwanderern waren die politischen Flüchtlinge. Bis 1961 nahm die DDR 1600 Menschen aus Griechenland und eine kleinere Zahl spanischer Bürgerkriegsflüchtlinge auf. Die Aufgenommenen waren in der Regel politische Gegner der jeweiligen Regime – meist Kommunisten –, die nun auf ihre Aufgaben in der Heimat vorbereitet werden sollten. Nach dem Militärputsch 1973 gegen die sozialistische chilenische Regierung durch Augusto Pinochet wurde eine größere Gruppe von 2000 Chilenen aufgenommen. Auch Westdeutschland nahm verfolgte Chilenen auf. Im Unterschied zu den politischen Emigranten zuvor waren nun aber nicht nur Kommunisten, sondern ebenso Vertreter des gesamten Parteibündnisses „Unidad Popular“ (Volksfront) in die DDR gekommen. Weil sie ihre Pässe behielten und somit reisen durften, nahm die Parteiführung die zum Teil politisch aktiven Einwanderer zunehmend als Sicherheitsrisiko wahr. Man versuchte daher unter anderem, sie zur Mitarbeit im Ministerium für Staatssicherheit zu bewegen. Sowohl die Staatsführung wie die Bürger erwarteten im Grunde, dass sie sich geräuschlos in die Alltagswelt der DDR integrierten. Als Individuen sollten sie möglichst nicht in Erscheinung treten, weshalb sich viele entschieden, in den Westen weiterzuwandern.

Im „Kampf gegen den Imperialismus“ kam es außerdem zur Aufnahme von Menschen aus Algerien, Südafrika, Palästina und Namibia, wobei die Spitzenkräfte meist direkt in die Sowjetunion emigrierten.

Staatsbürger einer anderen Nation galten in der DDR stets als Botschafter ihres Landes, doch tat man sich nicht leicht damit, ihnen als konkreten Menschen zu begegnen. Trotz der vielbeschworenen Völkerfreundschaft gab es – wenngleich nicht offiziell anerkannt – auch in der DDR fremdenfeindliches Gedankengut und Übergriffe auf Ausländer. Sich selbst als Gegenpol zum Nationalsozialismus verstehend, hatte man die öffentliche Verwaltung nach dem Krieg zunächst zwar entsprechend gesäubert. Das etablierte kommunistische System wiederholte in den Folgejahren jedoch vor allem die Erzählung des antifaschistischen Widerstandskampfes und des vermeintlichen Sieges über den Faschismus, die an die Stelle einer Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit und der Schuldfrage trat. Eine öffentliche Auseinandersetzung mit Rassismus und Fremdenfeindlichkeit blieb auf diese Weise aus, wodurch der Verbreitung bestehender rechtsradikaler Einstellungen letztlich Vorschub geleistet wurde.

Eine weitere Zuwanderungsgruppe, die lange Zeit wenig beachtet wurde, sind die 500.000 Westdeutschen, die zwischen 1949 und 1989 in die DDR eingewandert sind. Die meisten kamen vor dem Mauerbau, viele kamen aus Liebe, viele aus wirtschaftlichen Gründen. Zwei Drittel waren Rückkehrer. Einige von ihnen hatten keine Arbeit gefunden und wollten nun ihre Zukunft aufbauen. Andere kamen aus politischer Überzeugung, insbesondere infolge der 68er-Bewegung. Gemeinsam war ihnen, dass ihnen vielerorts Misstrauen entgegenschlug – von der Staatssicherheit, weil man die Einschleusung von Agenten befürchtete, aber ebenso von den ostdeutschen Mitbürgern und Mitbürgerinnen.

Häufig ging die Migration in die DDR deshalb mit Enttäuschung einher. Für manche von ihnen war der Mauerfall allerdings auch ein Schock.

 

Hier endet unsere Leseprobe.
Einen großartigen Überblick über die Migrationsgeschichte Berlins vermittelt Ihnen Tobias Allers in seinem Buch „Neuberliner“.

Der Historiker Tobias Allers organisiert mit Berlin Kultour Themenstadtführungen in Berlin. Der zertifizierte Städteführer bietet unter anderem die Tour „Geflüchtete aus historischer Perspektive“ an. Neuberliner ist sein erstes Buch.

 

Tobias Allers
Neuberliner
Migrationsgeschichte Berlins vom Mittelalter bis heute
176 Seiten, ca. 120 Abbildungen
21 x 28 cm, Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-944594-71-2
€ 29,95

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