Wer die deutsche Geschichte verstehen will, kommt an der Geschichte der Bundeswehr nicht vorbei. Seit ihrer Gründung 1955 ist die bundesdeutsche Armee ein Spiegel der Gesellschaft. Von Anfang an suchte sie ihren Platz zwischen Tradition und Neuausrichtung. Zugleich war sie immer eine Parlamentsarmee und fest eingebunden in europäische und transatlantische Bündnisse. Reformen folgten stets dicht aufeinander, Stillstand gab es nie. Wilfried von Bredow schlägt in „Die Geschichte der Bundeswehr“ den Bogen von den Anfängen der Bundeswehr mit ihren historischen Wurzeln bis hin zur heute weltweit agierenden Truppe. Es folgt eine exklusive Leseprobe.
Leseprobe
Bundeswehr und Wiedervereinigung
Am 11. Oktober 1986 trafen sich US-Präsident Reagan und der sowjetische Generalsekretär Gorbatschow in Reykjavík. An diesem Samstag wurde ein weltpolitischer Hebel umgelegt: Die beiden Weltmächte machten in der Frage der nuklearen Rüstungskontrolle und Abrüstung einen großen Schritt aufeinander zu. Ab jetzt nahmen die sicherheitspolitischen Spannungen zwischen dem Westen und der Sowjetunion ab.
Das kam für viele überraschend. Die Probleme mit den eurostrategischen Waffensystemen waren bald vom Tisch. Eine Reihe international verabredeter vertrauensbildender Maßnahmen entfalteten ihre Wirkung. Seit 1985 hatte sich Michail Gorbatschow mit dem Slogan „Zurück zu Lenin“ verzweifelt um eine innere Reform des Sowjetsozialismus bemüht, stieß aber sehr bald auf unüberwindliche Hindernisse. Es war schon kurios: Während die politische Öffentlichkeit in den USA und Westeuropa damals mit Verve die These des britischen Historikers Paul Kennedy über den Niedergang Amerikas als Weltmacht debattierte, zerbröselten zusehends die gesellschaftspolitischen Grundvorstellungen des Sowjetsozialismus, und die machtpolitischen Handlungsmöglichkeiten seiner Führung schrumpften dramatisch.
Das Ende des Ost-West-Konflikts bahnte sich an. Wie rasch dies geschehen würde, ob auf friedliche Weise oder in einem letzten Gewaltausbruch, konnte niemand vorhersagen. Ebenso wenig, welche Folgen der strukturelle Umbruch für die Weltpolitik sowie für die bestehenden und weitestgehend auf den Ost-West-Konflikt ausgerichteten militärischen Bündnisse und ihre Streitkräfte haben würde. Europa und die beiden deutschen Staaten als die Frontstaaten der Militärbündnisse NATO und Warschauer Pakt standen im Brennpunkt der weltpolitischen Veränderungen. In rasantem Tempo, binnen vier Jahren, kam es zum Umbruch in den ost- und südostmitteleuropäischen Satellitenstaaten Moskaus, zum Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989, der Vereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990, zur „notariellen Beendigung“ des Ost-West-Konflikts in der „Charta von Paris“ am 21. November 1990 sowie schließlich zur Auflösung der UdSSR am 21. Dezember 1991.
Was bedeutete das für die Bundeswehr und ihre Soldaten, deren Abschreckungs- und Verteidigungsauftrag ganz auf Szenarien eines vom Osten ausgehenden militärischen Angriffs zugeschnitten war? Was sollte aus den Streitkräften der DDR werden, der Nationalen Volksarmee? Und wie sollte man sich eine europäische Sicherheitspolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts vorstellen? Als diese Fragen akut wurden, gab es kaum Pläne und Blaupausen in den Schubladen der strategischen und sicherheitspolitischen Denkfabriken, auf die man hätte zurückgreifen können. Alles musste rasch überlegt, womöglich noch rascher entschieden werden. Zuweilen, so hatte man den Eindruck, waren die Entscheidungsträger selbst überrascht über die Ergebnisse ihrer Entscheidungen. Es war eine aufregende Zeit.
Die Nationale Volksarmee am Ende
Schon seit Mitte 1948 hatte man in der SBZ kasernierte Polizeibereitschaftseinheiten aufgestellt. Sie bildeten die paramilitärische Vorform der Anfang 1956 – nach der Gründung der Bundeswehr – durch einen Volkskammerbeschluss ins Leben gerufenen Nationalen Volksarmee (NVA). Die allgemeine Wehrpflicht wurde 1962 eingeführt, nach dem Bau der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenzbefestigung. Die Truppenstärke der NVA hat sich seit ihrer Gründung mehrfach geändert. Ende 1986 verfügte die NVA über eine Gesamtstärke von 244.000 Soldaten plus knapp 53.000 Zivilangehörige. Die Landstreitkräfte umfassten etwa 119 000 Soldaten, die Luftstreitkräfte etwa 38.000 Soldaten, die Volksmarine ungefähr 16.000 Soldaten. Die Grenztruppen brachten es auf fast 40.000 Uniformträger.
Die NVA unterstand dem DDR-Ministerium für Nationale Verteidigung, das wiederum durch das Politbüro und die Abteilung Sicherheitsfragen des Zentralkomitees (ZK) der SED kontrolliert wurde. Die „militärischen Politorgane“ hatten die ideologische Schulung der Soldaten durchzuführen. Zugleich sollten sie die Kommandeure beraten und deren Entscheidungen im militärischen Alltag im Sinne der SED beeinflussen. Nach dem Willen der SED sollte die NVA eine „Armee neuen Typs“ erden, durchdrungen von Klassenbewusstsein und der unverbrüchlichen Treue zur Sowjetunion und den anderen Verbündeten. Entsprechend sollte der Hass auf die westlichen „Militaristen und Imperialisten“ sowie die inneren Feinde des Volkes die Soldaten motivieren.
Militärisch wichtiger noch als die DDR-interne politische Kontrolle der NVA war ihre Einbindung in die Kommandostrukturen des Warschauer Paktes. Zudem waren auf dem Territorium der DDR über 300.000 Soldaten der Roten Armee stationiert, die sogenannte Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD).
Die sachliche und personelle Gefechtsbereitschaft der NVA wurde durchgehend auf einem ungewöhnlich hohen Niveau gehalten. So befand sich etwa ein Drittel der Luftstreitkräfte in ständiger Gefechtsbereitschaft, Ähnliches gilt für die Landstreitkräfte. Das bis in die späten 1980er-Jahre gültige Grundszenario bestand darin, dass die Truppen des Warschauer Paktes nach einem Angriff des Westens die Kriegshandlungen umgehend auf das Territorium des Angreifers verlegen und seine Kräfte zerschlagen sollten – eine Art Vorwärtsverteidigung Richtung Westen also. Man rechnete damit, dass ein solcher Angriff der NATO jederzeit zu gewärtigen und deshalb die gespannte Gefechtsbereitschaft notwendig sei.
Die Ost-West-Entspannung seit 1986/87 ging Hand in Hand mit einem immer stärker werdenden Legitimitätsverlust der DDR-Führung. Das wirkte sich auch auf die NVA und vor allem die politischen Kader in der NVA aus. Seit November 1989 standen mit einem Mal weitreichende militärische Reformen auf der Tagesordnung – was den militärischen Auftrag betraf, die Stellung der Armee in der Gesellschaft und nicht zuletzt das innere Gefüge der Streitkräfte mit mehr Mitgestaltungsmöglichkeiten. Diese Reformen wurden von Hans Modrow, dem letzten Minister, den das Politbüro der SED einsetzte, noch angestoßen, gerieten aber, wie so viele Anpassungsversuche des alten Regimes an die neue Situation, schnell ins Trudeln, weil die Dynamik der Tagesereignisse keine Zeit mehr ließ für kleine Schritte in Richtung großer Reformen.
Nicht zuletzt aus der Truppe selbst kamen deutliche Signale, dass fundamentale Veränderungen unumgänglich seien. Die Wehrpflichtigen forderten eine Verkürzung des Wehrdienstes und mehr Wehrsold. An manchen Standorten wurden Soldatenräte gebildet – immer ein deutliches Symptom, dass die Autorität der militärischen Führung zerbröselt. Im Winter 1989/90 drehte sich die Diskussion um Militärreformen im Kreise. Den einen dauerte alles zu lange, was im Blick auf die Veränderungen in der DDR-Gesellschaft verständlich ist. Die anderen wollten möglichst viel vom alten Militärregime und insbesondere die Parteiaufsicht über die NVA erhalten. Immerhin entstanden im Diskussionsprozess am „Runden Tisch“ und im Ministerium Pläne zur Reduzierung der NVA-Truppenstärke, zur Verkürzung des Wehrdienstes und zur Einführung eines Zivildienstes. Bis dahin hatten Kriegsdienstverweigerer einen Ersatzdienst als Bausoldaten zu leisten. Bausoldaten wurden im Straßen- und Gebäudebau sowie in Katastrophensituationen eingesetzt, eine Art Arbeitsdienst in Uniform, aber ohne Waffen.
Im Winter 1989/90 dachte man in der DDR-Regierung unter Modrow durchaus noch an die Möglichkeit, DDR und NVA zu reformieren. Damit war es nach den ersten freien Wahlen zur Volkskammer am 18. März 1990 vorbei. Nachdem am 1. April 1990 Rainer Eppelmann (Demokratischer Aufbruch) das Ministerium für Nationale Verteidigung übernommen hatte, das man jetzt etwas plakativ in Ministerium für Abrüstung und Verteidigung umbenannte, wurde die organisatorische Desorientierung aufgrund des Personalschwunds in der NVA deutlich. Viele Wehrpflichtige blieben einfach weg. Manche überzeugte SED-Anhänger im Offizier- und Unteroffizierkorps schieden aus der Armee aus, weil sie sich in ihr nicht mehr zu Hause fühlten. Eppelmann verfolgte zunächst den Plan, Warschauer Pakt und NATO im Gleichschritt aufzulösen. Daraus wurde nichts.
Am 2. Oktober 1990, dem letzten Tag der DDR und der NVA, verfügte Letztere noch über knapp 89.000 Soldaten und über etwas mehr als 48.000 zivile Mitarbeiter. Die Grenztruppen waren bereits am 21. September aufgelöst worden, und die DDR war drei Tage danach aus dem Warschauer Pakt ausgetreten.
Die Soldaten der NVA gehörten, wenn man von den Wehrpflichtigen absieht, in ihrer großen Mehrheit zu denjenigen in der DDR, die von der politischen Führung überzeugt und von der sowjetsozialistischen Weltanschauung und Ideologie durchdrungen waren. Insofern brach mit dem Ende der DDR und der Sowjetunion ihre Welt zusammen. Das Feindbild von der revanchistischen und imperialistischen Bundesrepublik hatte sich bis auf Restbestände in den Köpfen der alten DDR-Elite aufgelöst.
Für die Offiziere und Unteroffiziere der NVA gab es nun fünf Möglichkeiten. Erstens: Sie verweigerten sich der politischen Entwicklung und versuchten, ihr politisches Weltbild intakt zu halten, was aber angesichts der Vorgänge in Deutschland und Europa immer schwieriger wurde und außerdem keine griffige Handlungsperspektive eröffnete. Zweitens: Sie trauerten der „verlorenen Sache“ nostalgisch nach, schlossen sich in Erinnerungsgruppen zusammen und hielten, bald als Frührentner, die Fahne der NVA hoch. Drittens: Die Jüngeren ließen häufig die NVA-Vergangenheit hinter sich und versuchten, in anderen Berufen Fuß zu fassen. Viertens: Sie verlagerten ihre beruflichen Fähigkeiten in nichtstaatliche Sicherheitsbereiche, zumal im In- und Ausland der Bedarf privater Sicherheitsfirmen an gut geschultem Personal stetig stieg. Fünftens: Für NVA-Soldaten eröffnete sich die Option, ihre militärische Karriere nach dem Knick von 1989/90 in der Bundeswehr fortzusetzen. Das allerdings setzte nicht nur voraus, dass die alte DDR-Loyalität vollständig abgebaut, sondern auch eine neue Loyalität zu den Grundwerten und dem Grundgesetz der Bundesrepublik aufgebaut wurde.
Dr. Dr. h.c. Wilfried von Bredow war Professor für Politikwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg, Research Fellow in Oxford und Gastprofessor an verschiedenen Universitäten in der ganzen Welt. Er hat zahlreiche Bücher zur internationalen Politik veröffentlicht und schreibt regelmäßig für überregionale Zeitungen.
Die Leseprobe entstammt seiner Publikation „Die Geschichte der Bundeswehr “, 160 Seiten, Palm Verlag, € 29,95
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