Henry Werner beleuchtet in seinem Buch “Fußball in Berlin” die Fußballgeschichte der Hauptstadt von 1880 bis in die Gegenwart. In unserer Leseprobe nehmen wir Sie mit auf eine Reise ins blau-weiße Kapitel: Auf geht´s ins Berlin der Zwanzigerjahre!
Die großen Hertha Jahre
Für die Vereine bestand ein steigender Kostendruck. Für die meisten stellte sich der Ausweg aus der finanziellen Misere in einer Kombination aus sportlichem Erfolg und vielen Zuschauern dar. Allerdings verfügte 1920 praktisch kein Verein über ein Stadion, das mehr als 10 000 Zuschauern Platz bot. Das galt für das 1905 errichtete Jugendstil-Schmuckstück von Viktoria 89 ebenso wie für den Sportplatz an der Rathausstraße, auf dem Union 92 ab 1908 spielte und auf dem 1911 ganze 10 000 Zuschauer ein sensationelles 1:1 der deutschen Nationalmannschaft gegen England gesehen hatten. Auch auf Herthas Schebera-Platz, dem Preußen-Platz in Mariendorf, der Heimstätte von Vorwärts 90 in Tempelhof oder dem BSC-Platz in der Cicerostraße waren kaum größere Zahlen zu erzielen. An den stattlichen englischen Vorbildern konnten sich all diese Stadien nicht messen – vom niedrigen Komfort für Spieler, Zuschauer und Pressevertreter ganz zu schweigen.
Den ersten Schritt in die Ära der Großstadien unternahm die Hertha, die nach Ende des Weltkriegs nur noch ein Schatten ihrer selbst war. Der Verein träumte davon, die sportlich unbedeutenden Kriegsmeisterschaften in Friedenszeiten erfolgreich fortzusetzen, verfolgte dieses Ziel aber scheinbar auch mit unlauteren Mitteln. Der Verband bezichtigte Hertha in der Saison 1918/19, ihren Spielern Handgelder gezahlt zu haben. Den Bruch des Profitum-Verbots bestrafte der Verband mit einem Ausschluss des Vereins aus dem Ligabetrieb. Die Strafe wurde zwar bereits zu Saisonende ausgesetzt, doch sollte Hertha auf Jahre mit den sportlichen und finanziellen Folgen dieser Strafe kämpfen. Triste Zeiten für den BFC Hertha 92. Der Verein musste miterleben, wie der Lokalkonkurrent SV Norden-Nordwest zu einem sportlichen und wirtschaftlichen Boom ansetzte, der es ihm erlaubte, der Hertha beim Rennen um den Verkauf des Schebera-Platzes 1923 den Rang abzulaufen. Der Platz ging in ihren Besitz über und wurde in NNW-Platz umbenannt – eine Schmach für die Hertha, die nicht nur weiter sportlich nach Anschluss suchte, sondern auch finanziell schwer angeschlagen war und nun auch noch ohne eigenen Platz dastand.
Während NNW zu einer der wichtigsten Berliner Mannschaften der Zwanzigerjahre wurde und sich sogar zweimal für die Endrunde der Deutschen Meisterschaft qualifizierte, musste der BFC Hertha 92 den Neuanfang suchen und fand diesen im wohlhabenden, aber im Fußballsport unbedeutenden Berliner SC. Die beiden Vereine verbanden sich 1923 zum Verein Hertha BSC. Hertha sorgte für fußballerisches Renommee und eine konkurrenzfähige Mannschaft, während der Berliner SC umfangreiche Finanzmittel in die Ehe einbrachte, mit denen die „Schebera-Eisbahn“ auf der gegenüberliegenden Straßenseite erworben werden konnte. Ab 1924 entstanden an den Längsseiten des Platzes Holztribünen, die 3600 Zuschauern Platz boten, ab 1926 dann die legendären Tribünenberge an den Kopfseiten: auf der einen Seite der „Uhrenberg“, auf der anderen Seite der „Zauberberg“. 35 000 Menschen fanden nun im Stadion Platz. Das war zwar nicht annähernd so viel wie im Grunewaldstadion, jedoch erzeugten die Tribünen, die wie eine steile Wand bis zum Spielfeldrand reichten, eine intensive Stimmung, wie man sie bis dahin noch nicht im Berliner Fußball erlebt hatte. Kein Wunder, dass Hertha BSC binnen kürzester Zeit der Zuschauerkrösus im Berliner Fußball wurde und ab 1925 reihenweise sportliche wie finanzielle Erfolge feiern konnte.
Der Gewinn des Berliner Meisterschaftstitels im Sommer 1925 setzte den Auftakt für eine spektakuläre Verstärkung der Mannschaft: Hanne Ruch kam von Union 92, Hanne Sobek von Alemannia 90. Beide hatten in ihren Teams für Furore gesorgt. Dass nun sowohl Ruch als auch Sobek zu Hertha gingen, sorgte angesichts strikt verbotener Transferablösen für Gerede. Sobek beteuerte zwar, sich lediglich gegen Zusicherung eines Arbeitsplatzes für den Wechsel entschieden zu haben, allerdings blieb ein Verdacht im Raum stehen, zumal Sobek es offenbar kaum erwarten konnte, im blau-weißen Trikot aufzulaufen. Noch vor Ablauf der Wechselfrist ließ er sich für ein Freundschaftsspiel gegen Eberswalde unter dem Synonym Erich Poppe aufstellen. Diese Schummelei blieb angesichts Sobeks spielerischer Brillanz nicht unentdeckt, allerdings trafen die empfindlichen Verbandsstrafen allein Hertha BSC, nicht den Ausnahmespieler Sobek.
Sobek war der erste echte Fußball-Superstar seiner Zeit und unumstrittener Mittelpunkt eines Teams, das dank starker Besetzung und geringer Fluktuation auf mehrere Jahre hinaus den Berliner Fußball dominieren sollte. Ganze sechsmal in Folge konnte Hertha BSC den Berliner Meistertitel verteidigen und setzte in dieser Zeit gerade einmal 23 unterschiedliche Spieler ein. Hertha wurde damit Dauergast im Finale um die Deutsche Meisterschaft, jedoch blieb der ganz große Erfolg aus. 1925/26 sahen 45 000 Zuschauer einen 4:2-Halbfinalsieg im Grunewaldstadion gegen den Hamburger SV, jedoch mussten die Berliner wenig später während des erstmals live im Radio übertragenen Finalspiels miterleben, wie Hertha im Frankfurter Waldstadion klar 1:4 gegen Fürth verlor. Bereits im Folgejahr konnte man sich im Halbfinale mit einem 2:1 gegen Fürth revanchieren – ein Auswärtsspiel in Leipzig, bei dem die 1500 mitgereisten Hertha-Anhänger erstmals den bis heute bekannten Schlachtruf „Ha-Ho-He Hertha BSC“ skandierten – um schließlich im Endspiel vor 50 000 Zuschauern im Grunewaldstadion dem vierfachen Meister vom 1. FC Nürnberg zu unterliegen. 1928 drang Hertha zum dritten Mal souverän in das Finale vor, um in Hamburg-Altona 2:5 gegen den Hamburger SV zu verlieren, und auch 1929 endete der Traum von der Meisterschaft erst im alles entscheidenden Meisterschaftsspiel bei einer 2:3-Niederlage gegen Fürth.
Die Begeisterung der Berliner für ihre Hertha war groß wie nie zuvor, wenn auch die viermalige Endspielniederlage die Zuversicht der Berliner dämpfte. Als Hertha BSC 1930 abermals bis in das Finale vordrang, um in Düsseldorf gegen Holstein Kiel bereits nach sieben Minuten mit 0:2 hinten zu liegen, ahnten die Radiohörer im heimischen Berlin ebenso wie die mehreren Tausend Berliner Schlachtenbummler, die sich vom weiten Weg bis in das Rheinland nicht hatten abschrecken lassen, das Schlimmste. Doch Hertha berappelte sich und konnte bis zur 25. Minute mit zwei Treffern von Sobek ausgleichen. Noch einmal errang Kiel die Führung, die der Herthaner Bruno Lehmann aber noch vor der Pause ausglich. Nachdem Lehmann die Berliner in der zweiten Halbzeit erstmals in Führung gebracht hatte, schien das Spiel gegen die Kieler, die nach dem engagierten Kampf in der sengenden Junisonne erschöpft wirkten, entschieden zu sein. Als jedoch auf Kieler Seite Johannes Ludwig nach einer Fehlentscheidung des Schiedsrichters in der 80. Minute vom Platz gestellt worden war, standen die 40 000 Zuschauer (mit Ausnahme der Berliner Schlachtenbummler) geschlossen hinter Kiel und peitschten die dezimierte Mannschaft zum überraschenden 4:4 in der 82. Minute. Ein letztes Mal gelang es den Berlinern, sich zu sammeln. Das 5:4 durch Hanne Ruch setzte in der 87. Minute den Schlusspunkt unter ein abwechslungsreiches und dramatisches Spiel. Hertha BSC war im fünften Anlauf erstmals Deutscher Meister geworden, was das aufgebrachte westdeutsche Publikum mit Steinwürfen gegen den Berliner Mannschaftsbus quittierte. Umso euphorischer war hingegen der Empfang der Berliner zur Rückkehr der Mannschaft am Bahnhof Friedrichstraße.
Schon im Folgejahr gelang es Hertha, den Erfolg in Köln mit einem 3:2 gegen 1860 München zu wiederholen. Auch hier konnte ein zweimaliger Rückstand egalisiert und zwei Minuten vor Schluss durch einen Treffer von Willi Kirsei in einen Sieg umgemünzt werden. In Berlin kannte die Euphorie nun keine Grenzen mehr, und das Meisterstück, sechsmal in Folge das Finalspiel erreicht zu haben, wird als Rekord für die Ewigkeit (der lediglich von Schalke 04 zwischen 1937 und 1942 eingestellt werden konnte) bestehen bleiben. Zugleich sollte dieser Erfolg aber auch das Ende der großen Hertha-Ära markieren. Die mittlerweile überaltete Mannschaft musste sich bei der Berlin-Brandenburger Meisterschaft den Moabiter Rivalen von Minerva 93 geschlagen geben. Eine erneute Teilnahme an der Deutschen Meisterschaft 1932/33 endete bereits in der ersten Runde mit einem schmachvollen 1:4 gegen den SV Hindenburg Allenstein aus Ostpreußen.
Hier endet unsere Leserprobe!
Mehr zur Berliner Geschichte des Fußballs und vor allem viele einzigartige Aufnahmen finden Sie in Henry Werners brandneuem Buch „Fußball in Berlin. Spieler – Vereine – Emotionen. 1880 bis heute“, Elsengold Verlag.
Zum Autor: Dr. Henry Werner ist in der PR-Abteilung eines Berliner Unternehmens tätig. Der studierte Wirtschaftshistoriker hat lange Jahre als Presseattaché der Königlich Dänischen Botschaft in Berlin und als Journalist gearbeitet. Er ist bereits Autor mehrerer Bücher.
Neueste Kommentare