Abends füllt sich das rote Eckzimmer in der Jägerstraße 54 – Adlige und Bürger, Schauspieler und Politiker, Philosophen und Schriftsteller diskutieren bei Tee und Gebäck über Literatur, Theater und das Leben. Doch ganz gleich, wie hitzig die Debatten werden: Wenn eine kleine, zierliche, unscheinbare Frau ihre Stimme erhebt, hören ihr die namhaften Persönlichkeiten der Residenzstadt zu. Niemand kann der Anziehungskraft der Rahel Levin, spätere Varnhagen, widerstehen. Mit Scharfsinn, Empathie und Lebendigkeit gewinnt sie die Herzen ihrer Gäste, ihre Worte bewegen und polarisieren. Das Gespräch ist Rahels Leben. In geselligen Abenden und Briefen entflieht sie der Einsamkeit und sozialen Ächtung als Frau und Jüdin. Ihre Worte faszinieren noch heute und offenbaren Stolz, Sehnsucht und Leidenschaft einer Frau, die Zeit ihres Lebens innig mit Berlin verbunden war.
Rahel kommt am 19. Mai 1771 in Berlin als erstes Kind des wohlhabenden jüdischen Bankiers Markus Levin zur Welt, drei Brüder und eine Schwester folgen. Als Älteste kümmert sie sich von klein auf um ihre Geschwister, wenn die Mutter den Vater auf Reisen begleitet. Mit ihrer spitzen Zunge ist Rahel der Liebling ihres Vaters, auch ohne schulische Bildung spricht sie neben Jiddisch auch fließend Deutsch und Französisch – zwar schreibt sie zeitlebens fehlerhaft, aber das tut ihrer Begeisterung für das Wort keinen Abbruch. Sie verschlingt die Literatur ihrer Zeit, vor allem Goethe, den sie bis an ihr Lebensende verehren wird.
Sie wächst privilegiert auf, leidet jedoch mit zunehmendem Alter unter ihrer Unansehnlichkeit (»Außer dem, daß ich nicht hübsch bin, habe ich keine innere Grazie…«) und ihrer »infamen Geburt« – zwar gehören die Levins zur jüdischen Elite, doch haben auch reiche Juden keinen Zutritt zur gehobenen Gesellschaft. Rahel ist die Welt verschlossen, der sie sich nach ihren regen geistigen Interessen doch zugehörig fühlt. Ihre ebenfalls jüdische Freundin Henriette macht ihr den Ausweg aus dieser Isolation vor: Das hochgebildete und bildhübsche Mädchen wird mit 14 Jahren mit dem Arzt Marcus Herz verheiratet. Während der Ehemann in ihrem Haus Vorlesungen und philosophische Gespräche abhält, versammelt Henriette rasch einen Kreis junger Literaturinteressierter um sich, mit denen sie ungezwungen und geistreich diskutiert. Der Salon der Henriette Herz erlangt schnell Bekanntheit, vor allem die schöne Hausherrin zieht junge Männer in Scharen an.
Rahels Stunde schlägt erst nach dem Tod ihres Vaters im Jahr 1790. Die Familie zieht in die Jägerstraße 54 um und Rahel wird zum neuen Mittelpunkt der häuslichen Abendgesellschaften, bei denen sie mit ihrem scharfen Verstand und ihrer Menschenkenntnis brilliert. Im Herzen der vornehmen Friedrichstadt, nur ein paar Schritte vom Gendarmenmarkt entfernt, entsteht ihr erster Salon. Führende Köpfe der Frühromantik kommen zu Besuch, adlige Gäste wie Prinz Louis Ferdinand von Preußen gehen ebenso bei ihr ein und aus wie Schauspieler und jüdische Künstler, gegensätzliche Meinungen und Persönlichkeiten prallen aufeinander. Rahel ist mittendrin, vermittelt, stellt vor, diskutiert leidenschaftlich und scharfsinnig, nimmt sich für jeden Gast Zeit. Interessante Menschen kennenzulernen und mit anderen zusammenzubringen, ist ihre größte Lust: »Nichts freut mein Herz so sehr, als wenn sich meine Freunde anerkennen; und ich kann triumphirend sitzen und denken, du bist die Erste, du hast den entdeckt; und nun müssen sie ihn lieben!« 1795 wird ihr ein anderer, lang ersehnter Triumph beschert: In Karlsbad trifft sie endlich Goethe, der sich sehr angetan von ihr zeigt und seine Verehrerin hinterher »schöne Seele« nennt – eine große Auszeichnung aus dem Mund des Dichterfürsten.
Ein Jahr später entbrennt Rahel zum ersten Mal in Liebe. 1796 lernt sie den Grafen Karl von Finckenstein in der Oper kennen, der bald in ihrem Haus ein- und ausgeht. Sie schlendern zusammen Unter den Linden entlang und schreiben sich während Zeiten erzwungener Trennung lange Briefe, die Finckenstein mit »Ewig, ewig der Deinige« beschließt. Rahel hofft auf Heirat, obwohl die Eheschließung eines Adligen mit einer Bürgerlichen, noch dazu einer Jüdin, als Verletzung der Standesehre gilt. Doch sie will endlich dem Stigma des Judentums entkommen. Obwohl Finckenstein sie hinhält, gibt sie ihn nicht auf. Vier Jahre lang hält die Verbindung, bevor sich Rahel 1800 endlich zum Bruch durchringt. Vor der Enttäuschung und »Schmach« flieht sie mit einer Freundin für ein Jahr nach Paris.
Nach ihrer Rückkehr erlebt ihr Salon seine Blütezeit. Es wird angeregt über Literatur, Theater und Liebe geredet, Politik kommt kaum zur Sprache. Geselligkeit gilt als Kunst, die Gäste kommen, um sich zu inszenieren und gesehen zu werden. Rahel weiß sehr gut um ihr Talent in dieser Kunst: »Ich liebe unendlich Gesellschaft und bin ganz überzeugt, daß ich dazu gebohren, von der Natur bestimmt und ausgerüstet bin.«
Außerhalb der gemeinsamen Abende empfängt sie Freunde zu intimen Gesprächen in ihrer Dachstube. Es wird hauptsächlich über Liebschaften gesprochen, Rahel hört zu und tröstet, gibt Rat. Sie ist eine enge Vertraute des skandal-trächtigen Liebespaares Pauline Wiesel und Prinz Louis Ferdinand. Vor allem junge Männer zieht sie in ihren Bann, die sie verehren und ihr innige Briefe schreiben, geprägt vom Freundschaftskult der Zeit. Mit ihrem Jugendfreund David Veit tauscht sie sich über den von beiden glühend verehrten Goethe aus, Friedrich Gentz schreibt ihr Zeilen voller Sinnlichkeit – ein Liebesspiel auf dem Papier, das nie die Phantasie verlässt.
Rahels Briefe sind ein Spiegel ihrer wechselvollen Gefühle, mal ist sie stolz und übermütig, mal bedrückt und verzweifelt. Sie schreibt über die körperlichen Leiden, die sie plagen – seit ihrer Jugend hat sie mit schwerem Rheumatismus zu kämpfen, muss oft zur Kur fahren – und hadert immer wieder mit sich selbst. Nicht nur als Jüdin, auch als Frau fühlt sie sich ausgegrenzt.
»…kann ein Frauenzimmer dafür, wenn es auch ein Mensch ist?… Ein ohnmächtiges Wesen, dem es für nichts gerechnet wird, nun so zu Hause zu sitzen, und das Himmel und Erde, Menschen und Vieh wider sich hätte, wenn es weg wollte (und das Gedanken hat wie ein anderer Mensch).« Ihren Bewunderern ist Rahel meist an Intellekt und Urteilskraft überlegen, Gentz schreibt ihr: »Sie sind ein großer Mann, ich bin das erste aller Weiber.« Doch was im Salon und im persönlichen Gespräch fasziniert und Verehrung hervorruft, befremdet Familie und Liebeswerber.
(…)
Hier endet unsere Leseprobe. Wie es im Leben von Rahel Varnhagen von Ense weitergeht, können Sie im Band „Berlinerinnen“ nachlesen!
Das große Beitragsbild oben zeigt die Mauerstraße, hier auf einer Zeichnung aus dem späten 18. Jahrhundert. Dort unterhielten die Varnhagens ihren Salon; © akg-images
Autorin dieses Artikels: Die Germanistin Martha Wilhelm arbeitet nach ihrer Tätigkeit bei einem Berliner Verlag als freie Lektorin und Autorin.
Mehr starke Frauen, die Geschichte geschrieben haben, finden Sie in „Berlinerinnen. 20 Frauen, die die Stadt bewegten“, Elsengold Verlag.
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