Ein kleiner Ausflug zum Richardplatz: alte Gemäuer, lecker Essen … und warum wir ein böhmisches Restaurant vermissen

Auf dem Richardplatz befindet sich die im Jugendstil errichtete Trinkhalle von Reinhold Kiehl. © Jürgen Henkelmann

Der „Blutwurstritter“ markiert die Grenze. Wer von der Karl-Marx-Straße kommend in Richtung Richardplatz den Karl-Marx-Platz abschreitet, lässt ab der Fleischerei, deren Inhaber Marcus Benser schon mehrfach den bedeutendsten Blutwurstwettbewerb gewonnen hat, die Ramschmeile hinter sich. Hier geht es gemütlicher zu. Dazu trägt allein schon das Tempolimit von zehn Stundenkilometern bei, das den Verkehr dort entschleunigt, wo der Karl-Marx-Platz in den Richardplatz übergeht. Die ansonsten in Neukölln dominierende Blockrandbebauung setzt aus, ein- oder zweigeschossige villenartige Häuser stehen neben einzelnen Gründerzeitbauten mit der üblichen Traufhöhe. Die Straße weitet sich schließlich zu einem historischen Dorfanger, einem lang gestreckten Platz mit reichem Baumbestand und Kopfsteinpflaster: dem Richardplatz.

Auf dem östlichen Teil des Platzes befindet sich in einem Gehöft die älteste noch aktive Schmiede Berlins. Seit 1797 wurden hier die landwirtschaftlichen Arbeitsgeräte der Dorfbewohner geformt. Heute kommen allerdings nicht mehr Hufeisen und Pflüge, sondern Messer und Kunsthandwerk auf den Amboss. Gegenüber, auf der südlichen Seite des Platzes, betreibt die Familie Schöne seit fünf Generationen ein Fuhrunternehmen. Mittlerweile hat sie die Automobilsparte aufgegeben und sich auf Kutschfahrten spezialisiert. Es lohnt sich, in den meist offenstehenden Hof hineinzugehen, um mit etwas Glück einen Blick auf die historischen Gefährte zu erhaschen. Zum Jahresende dient das dörfliche Ambiente regelmäßig als Kulisse für einen Weihnachtsmarkt der besonderen Sorte. Rund 100 gemeinnützige Vereine und Initiativen bauen hier ihre Stände auf. Die wenigen Händler, die eine Konzession für den Markt bekommen, müssen einen guten Teil ihrer Einnahmen für karitative Zwecke spenden. Erst nach Anbruch der Dunkelheit fällt auf, was auf dem Weihnachtsmarkt fehlt: Elektrizität. Musik kommt von Instrumenten, Licht aus Petroleumlampen.

Auf dem kleineren Teil des Platzes, westlich der Richardstraße, die den Richardplatz in zwei Hälften teilt, steht eine Jugendstil-Trinkhalle aus dem Jahr 1910, rund wie eine Litfaßsäule. Entworfen wurde sie von Reinhold Kiehl, der als erster Baustadtrat Neuköllns auch das Rathaus und das prächtige Stadtbad in der Ganghofer Straße gestaltete. Architekturstudenten kommen her, um sie zu fotografieren, Handwerker, um Pommes zu essen. Und das ist nicht der einzige Ort am Richardplatz, wo deftiges Essen angeboten wird: Der Österreicher Alois Offner betreibt hier das „Louis“, das längst zu einer Institution geworden ist, denn Offner serviert das mit einem Durchmesser von 46 Zentimetern größte Schnitzel Berlins. Nur jeder fünfte Gast schaffe es, das Schnitzel aufzuessen, schätzt der Gastwirt. Eine Straßenecke weiter, wo sich Wipperstraße und Kirchhofstraße treffen, hat sich gewissermaßen der Gegenpol zum fleischlastigen „Louis“ etabliert: und zwar das „Vux“, ein veganes Café. Bereits am Eingang erwartet potenzielle Kunden das Statement „Hier ist Pelzbekleidung nicht willkommen“. Diejenigen, die ohne Pelzkleidung das amerikanisch inspirierte Lokal besuchen, dürfen testen, ob klassische Sahnetorten auch auf Soja- und Dinkelbasis schmecken. Lederschuhe und -gürtel werden hingegen geduldet.

Neben österreichischer, indischer, italienischer und türkischer Küche fehlt dem Richardplatz jedoch ausgerechnet eine Gastronomie aus der Gegend, die Rixdorf, und damit auch Neukölln, maßgeblich geprägt hat: Böhmen. Als Rixdorf noch ein Nest mit dreistelliger Einwohnerzahl war, gestattete der Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. 18 böhmischen Familien, sich hier niederzulassen. Sie gehörten der Glaubensgemeinschaft der Böhmischen Brüder an und waren als Protestanten auf der Flucht vor den katholischen Habsburgern, die in Böhmen herrschten. Über das sächsische Herrnhut gelangten sie 1737 nach Rixdorf. Hier stellte ihnen der preußische Staat neun Gehöfte zur Verfügung, die jeweils von zwei Familien bewohnt wurden. Die Häuschen, die heute in der Richardstraße und Kirchgasse stehen, stammen allerdings nicht aus dem 18. Jahrhundert, da 1849 ein verheerendes Feuer das Dorf nahezu gänzlich einäscherte. Auf die böhmische Vergangenheit der Häuser verweisen aber immer noch die Namen auf den Briefkästen, etwa Niemetz, Wanzlik, Maresch oder Krystek.

1875 kam das letzte Kind aus einer rein böhmischen Verbindung zur Welt. Zu diesem Zeitpunkt hatte das rasante Wachstum Berlins schon auf das beschauliche Rixdorf übergegriffen: Zwischen 1871 und 1919 – ein Jahr vor der Eingemeindung nach Berlin – stieg die Einwohnerzahl von rund 8000 auf 280 000 an. Im sogenannten Büdner-Dreieck zwischen Karl-Marx-Straße, Herrnhuter Weg und Richardstraße finden sich in den Innenhöfen der Blockrandbebauung noch Scheunen und Ställe, die Relikte der vorurbanen Zeit sind. Mit dem Passage Kino, dem Puppentheater-Museum, der Neuköllner Oper und dem Saalbau Neukölln konzentriert sich in diesem Dreieck das kulturelle Leben des Bezirks, heute wie auch zu der Zeit, als die Karl-Marx-Straße bebaut wurde. Allerdings war das Rixdorfer Kulturangebot Ende des 19. Jahrhunderts nicht nach dem Geschmack der feinen Leute: Fressbuden, Gaukler und Tanzlokale zogen die Berliner Arbeiterschaft in den sich mehr und mehr ausdehnenden Ort vor den Toren der Metropole, der der Obrigkeit als Sündenpfuhl schlechthin galt. Auch die Berliner Unterwelt lockte es hierher, wo sie sich dem Gesetz entziehen konnte.

Denkmalgeschütztes Gehöft von 1885 am Richardplatz. © Jürgen Henkelmann

Denkmalgeschütztes Gehöft von 1885 am Richardplatz. © Jürgen Henkelmann

Der auf einer böhmischen Melodie basierende Schlager „Der Rixdorfer“ beschreibt, was die Vergnügungssuchenden faszinierte:
„Auf den Sonntag freu ick mir.
Ja dann geht es raus zu ihr
feste mit vergnügtem Sinn
Pferdebus nach Rixdorf hin.
Dort erwartet Rieke mir
ohne Rieke kein Plaisir.
(…) In Rixdorf is Musike, Musike, Musike,
da tanzen Franz und Rieke
die letzte Polka vor.“
Die Verse verbreiteten sich im ganzen Kaiserreich und dürften den Oberen des inzwischen auch formell Stadt gewordenen Rixdorf den letzten Anstoß gegeben haben, den Ortsnamen zu ändern. Den Hinweis auf die dörfliche Vergangenheit wollte man ohnehin loswerden.

Autor dieses Artikels: Sebastian Petrich, geboren 1975. Er arbeitet als freiberuflicher Texter und Redakteur in Berlin, wenn er nicht gerade durch die Berliner Kieze schlendert. Die Fotos in dem Artikel stammen von Jürgen Henkelmann, Fotodesigner und Bildjournalist in Berlin.

Den ganzen Streifzug durch Rixdorf und 19 weitere Kieze in Text und Bild finden Sie in dem Buch „Die schönsten Berliner Kieze. 20 Streifzüge durch die Stadt“, Elsengold Verlag

Beitragsbild oben (U-Bahnstation Karl-Marx-Straße) © Jürgen Henkelmann.

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