Der Prinz flaniert durch sein Theben: eine kleine Gestalt mit kurzen dunklen Haaren und schweren Ohrringen, Schmuck glänzt auch an Hals und Fingern, eine bunte Schärpe umfasst die zierliche Taille. Alle Passanten drehen sich nach der ungewöhnlichen Erscheinung um, die meisten kennen sie zumindest vom Hörensagen – die berühmteste Dichterin Deutschlands, ob brillant und visionär oder sentimental und geistig verwirrt, darüber wird beherzt gestritten. Theben ist Berlin und der Prinz ist Else Lasker-Schüler. Die Expressionistin lebt und liebt in einer eigenen Welt, in der die Realität nur in Chiffren und verrätselten Namen durchscheint. Zeitlebens von finanzieller Not geplagt und missverstanden, weiß sie ganz genau, dass sie einzigartig ist – so wie Berlin, in dessen Romanischem Café am Kurfürstendamm sie Hof hält, auch als die meisten ihrer Freunde bereits vor den Nationalsozialisten die Flucht ergriffen haben.

kolorierte Tuschezeichnung von Else Lasker-Schüler

So sieht Else sich 1913: “Jussuf prince Tiba”, kolorierte Tuschezeichnung, © akg-images

Als die Dichterin 1926 zahlreiche Glückwünsche zum 50. Geburtstag erhält, reagiert sie verständnislos und empört – dabei hat sie selbst ihr Geburtsjahr so oft geändert, dass nicht einmal Freunde wissen, zu welchem Alter man sie beglückwünschen darf. Tatsächlich kommt Elisabeth Schüler am 11. Februar 1869 in Elberfeld (heute Wuppertal) zur Welt, sie ist das sechste Kind des jüdischen Bankiers Aron Schüler und seiner Ehefrau Jeanette. Das ungestüme Mädchen spielt lieber mit Jungen als mit Mädchen, am liebsten Krieg, und strengt sich nicht sehr in der Schule an. Nachdem ihr Lieblingsbruder Paul 1882 an Tuberkulose stirbt, wird Else privat unterrichtet. Acht Jahre später ereilt die Familie der nächste schwere Schlag: Jeanette erliegt einem langen Krebsleiden. Der Verlust prägt die zukünftige Dichterin, die rückblickend schreibt: »Wie meine Mutter starb, zerbrach der Mond.«

Das Heim der Familie Schüler wird leerer. 1893 heiratet Elses Lieblingsschwester Anna, Trauzeuge ist der Arzt Dr. Berthold Lasker, der sich noch im selben Jahr mit der neun Jahre jüngeren Else verlobt. Nach der Heirat 1894 zieht das Paar nach Berlin, wo Lasker im Tiergartenviertel seine erste Praxis eröffnet. Seiner Ehefrau mietet er ein Atelier und stellt ihr den Maler Simson Goldberg an die Seite, der ihr nicht nur das Zeichnen beibringen, sondern auch ihr Temperament bezähmen soll. Sein Vorhaben scheitert: Else bleibt unbelehrbar und wirft ihrem Ehemann, dem »Eckel«, Kälte vor – die schlimmste Beleidigung aus dem Mund dieser vor Leidenschaft überschäumenden jungen Frau. Bald leben sie getrennt, Lasker bemüht sich jedoch noch jahrelang um seine Ehefrau. Auch als sie 1899 einen Jungen zur Welt bringt, der nicht von ihm sein kann, erkennt Lasker das Kind als sein eigenes an. Else lässt sich von ihm für sich und den Sohn Paul eine Wohnung in der Schlüterstraße 62 finanzieren, nur wenige Häuser von Lasker entfernt. Die Identität von Pauls Vater hält sie zeitlebens geheim.
1899 wird auch zum Geburtsjahr der Dichterin Else Lasker-Schüler. Durch die Begegnung mit dem Schriftsteller Peter Hille findet sie zum Schreiben. Ihr Mentor führt sie in die Berliner Literaturszene ein und fördert die Veröffentlichung ihrer ersten Gedichte. 1901 erscheint ihre Gedichtsammlung »Styx«. Die Resonanz ist verhalten, doch das mag die von sich selbst überzeugte Autorin nicht glauben. Fast täglich schreibt sie ihrem Verleger Axel Juncker – »Wollen Sie nicht etwas Reclame für Styx machen?« – und fordert den Versand der Bücher an Rezensenten und Institutionen, ohne für die Exemplare bezahlen zu können. Der Verkaufserfolg bleibt dennoch aus. Zumindest an der Liebesfront sieht es besser aus: 1903 heiratet Else den neun Jahre jüngeren Georg Levin, der unter dem von ihr erhaltenen Namen Herwarth Walden später als Verleger bekannt wird. Walden wird ihr größter Förderer und sorgt dafür, dass der Name Else Lasker-Schüler untrennbar mit der Berliner Bohème verbunden bleibt. Der Name bleibt allerdings auch – Else weigert sich, Walden als neuen Nachnamen zu führen (»Nicht Schüler-Walden«). Das Paar zieht zunächst in die Ludwigkirchstraße 12 unweit des Kurfürstendamms, dann in die Katharinenstraße 5 im noblen Halensee. Sie arbeiten eng zusammen – Walden gründet 1904 den Verein für Kunst, der junge Talente fördern soll, Else hilft bei der Anwerbung prominenter Unterstützer. In dem an den Verein angegliederten Verlag erscheint ihr zweiter Gedichtband »Der siebente Tag«.
Im selben Jahr stirbt Hille und Else macht sich daran, die Beziehung zu ihrem »Meister« literarisch zu verarbeiten. Das 1906 erscheinende »Peter Hille-Buch« ist die Geschichte einer Offenbarung: »Petrus« erklärt seiner Jüngerin »Tino« die Welt. Der Name, den Hille ihr gab, begleitet sie jahrelang – ihr nächstes Buch heißt denn auch »Die Nächte Tino von Bagdads« (1907). Darin wandelt Tino, die Dichterin Arabiens, durch eine orientalische Welt, die Else zeitlebens fasziniert. In der märchenhaften Geschichte wie schon im »Peter Hille-Buch« erkennen Eingeweihte Ereignisse und Personen aus dem Umfeld der Autorin wieder. Auch hinter den Figuren, in die sich Tino von Bagdad verliebt, verbergen sich meist reale Männer aus Elses Leben – so der Schriftsteller Peter Baum oder der Anarchist Johannes Holzmann, der Else den Namen Senna Hoy verdankt. Liebe ist für Else so notwendig wie Atmen, mit nie ausgeschöpfter Leidenschaft wirft sie sich jüngeren Männern an die Brust und feiert ihre Gefühle: »Herrlich ist es, verliebt zu sein, so rauschend, so überwältigend, so unzurechnungsfähig …« Walden kennt ihre zärtlichen und sinnlichen Gedichte an verschiedene Adressaten – und druckt sie ab. Der finanzielle Erfolg lässt jedoch bei beiden auf sich warten: Während Walden den Zeitschriften, bei denen er als Redakteur anfängt, immer wieder zu modern ist, will niemand Elses Stück »Die Wupper« (1909) aufführen.

Doch ihr Unternehmungsgeist kennt keine Grenzen. Als ein britischer Germanist Gedichte von ihr in einer Anthologie deutscher Gegenwartslyrik veröffentlichen will, antwortet sie ihm leichthin: »Dire Sire. I can’t speak englisch, all is fly out my head eway.« Das hält sie jedoch nicht davon ab, rege mit dem Briten zu korrespondieren und gemeinsame Veranstaltungen in England zu planen, zu denen es nie kommt. Ihm schreibt sie offenherzig: »Sind Sie, wie ich es bin, ewig 14jährig? und ein Knabe? Eckelhaft sind Frauen und Männer.« Der ewig 14-jährige Knabe nennt sich ab 1911 Jussuf von Theben.
Im selben Jahr flieht Walden vor seiner finanziellen Misere nach Norwegen. Auch die Gründung der Zeitschrift »Der Sturm«, die zu einem der zentralen Organe des deutschen Expressionismus wird, hilft ihm nicht, die Miete zu bezahlen. Else bleibt in Berlin und schreibt ihrem Mann vom Café des Westens aus lange Briefe – die natürlich im »Sturm« erscheinen. Die Leser werden Zeugen, wie die Ehe der beiden zerbricht. Walden verliebt sich in eine junge Schwedin, Else ist empört, dass er es ihr verschweigt: »Ich sagte immer alles, auch die Schwärmerei damals zu Oskar Kokoschka und alles. Er heimlich.« Die »Briefe nach Norwegen« werden fortgesetzt, auch als Walden längst wieder in Berlin ist – mit der hübschen Blondine an seiner Seite. 1912 lassen sie sich scheiden. Von nun an wohnt Else in verschiedenen Pensionen, ihre Gedichte erscheinen in der Konkurrenzzeitschrift »Die Aktion«.
Im selben Jahr lernt Else zwei der wichtigsten Männer in ihrem Leben kennen: Gottfried Benn und Franz Marc. Benns Gedichtzyklus »Morgue« erregt in Berlin viel Aufsehen, Else vergleicht ihn mit Kokoschka. Sie umwerben einander in Gedichten, ihr »Giselheer« hilft Else über den Tod ihrer Schwester Anna hinweg. Benn zieht sich jedoch bald wieder aus der Bohème in die Bürgerlichkeit zurück und kränkt Else mit seiner Zurückweisung. Die Freundschaft zu Marc hingegen bleibt bis zu dessen Tod bestehen. Sie nennt den Maler »Blauer Reiter« (nach der von ihm und Wassily Kandinski gegründeten Künstlergruppe) und »Ruben« – der Bruder von »Jussuf« nach der biblischen Josephsgeschichte – und besucht ihn und seine spätere Ehefrau Maria in Oberbayern. Ihr schickt er den ersten Entwurf seines berühmten »Turms der blauen Pferde« auf einer Postkarte, er unterstützt sie auch finanziell. Auch der Wiener Karl Kraus, Herausgeber der satirischen Zeitschrift »Die Fackel«, ruft zu Spenden für die am Hungertuch nagende Autorin auf.

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wird es auf einen Schlag leer in Berlin. Viele Expressionisten lassen sich von der Kriegseuphorie mitreißen, überzeugt von der Möglichkeit, gewaltsam einen Umsturz der herrschenden Ordnung herbeizuführen. Maria Marc gegenüber klagt Else: »Alle, alle sind fort, keine Freude mehr, kein Spiel, tief vereinsamt alles.« Franz Marc ist einer der glühendsten Verfechter des Krieges. Von ihm lässt sich Else anstecken: »Immer bin ich mit meiner Seele bei dir im Krieg und ich bin beschämt, daß ich nicht dem Zuge folgen kann oder mitziehen kann.« Der Krieg fordert jedoch große Opfer. Elses neuester Freund, der Militärapotheker und Dichter Georg Trakl, stirbt 1914 nach einem missglückten Selbstmordversuch in Krakau an einer Überdosis Kokain. Marc fällt 1916 bei Verdun. Die Autorin, die zum Schreiben inzwischen vom Café des Westens ins Romanische Café umziehen musste, ist untröstlich. Doch da erkrankt ihr Sohn Paul und Else mobilisiert alle Kräfte, um ihn in einem Schweizer Sanatorium unterzubringen.
Nach Kriegsende geht es wieder aufwärts: Elses gesammelte Werke erscheinen, »Die Wupper« wird uraufgeführt, der Verkauf der Bildkarten, die sie von Marc aufbewahrt hat, sowie eigener Zeichnungen beendet vorerst ihre finanziellen Schwierigkeiten. Sie wohnt jetzt im Hotel Koschel in der Motzstraße in Schöneberg, in ihrer »Kajütte«. Die Schatten der Zeitgeschichte fallen jedoch auch auf Elses Welt. Von Judenpogromen in Kischnev (im heutigen Moldawien) erschüttert, veröffentlicht sie 1921 »Der Wunderrabbi von Barcelona«, in dem sie sich mit Antisemitismus und Zionismus auseinandersetzt. Ein Jahr später erbt sie Geld von Verwandten aus den USA, verliert es jedoch in der Inflation. Fortwährende Streitigkeiten mit Verlegern führen dazu, dass sie 1925 im Selbstverlag die Anklageschrift »Ich räume auf!« veröffentlicht, die die Willkür und Geldgier der Verleger anprangert. 1926, als alle Else zum vorgeblich 50. Geburtstag gratulieren, wird bei Paul Tuberkulose diagnostiziert. Trotz diverser Sanatoriumsaufenthalte stirbt er ein Jahr später in Berlin.

Else Lasker-Schüler im Jahr 1932

Else Lasker-Schüler im Jahr 1932, © akg-images

Obwohl Else immer öfter Ziel von antisemitischen Anfeindungen wird, bleibt sie in Berlin. Ihre Kämpfernatur blüht auf: »Noch eine Wunde am Oberarm und Unterfußgelenk, so hab ich mich geschlagen mit den Nazis.« Im Roman »Arthur Aronymus« (1932) inszeniert sie die Versöhnung zwischen Juden und Christen – die Hauptfigur ist ihrem Vater nachempfunden. Die Bühnenfassung kann in Deutschland nicht wie geplant aufgeführt werden, die Repressalien sind zu groß. Die Verleihung des Kleist-Preises an Else, den sie sich mit Richard Billinger teilt, verschlimmert die Übergriffe gegen sie. 1933 reist Else endlich in die Schweiz ab, hat jedoch nicht vor, lange zu bleiben.

In Zürich ist es ihr zu still. Sie darf nicht arbeiten und muss Bußgeld zahlen, als sie dennoch wieder veröffentlicht. Die Fremdenpolizei beobachtet sie. Reisen nach Palästina nehmen sie nicht für das Land ein, doch bald bleibt ihr keine andere Wahl – Deutschland bürgert sie 1938 aus, auch die Schweiz will sie nicht länger haben und verweigert ihr 1939 die Wiedereinreise aus Palästina. Sie zieht nach Jerusalem, zuerst wohnt sie in Hotels, dann zur Untermiete. Deutschland bleibt ihre Heimat. Noch kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs schreibt sie: »Es giebt keinen Krieg – ich bin überzeugt, wir alle!« Trotz ihres Alters sind ihre Lebensgeister ungebrochen: Von ihrer Rente gibt sie das meiste für Vogelfutter aus, sie verliebt sich in einen 40-jährigen Akademiker und schreibt ihm glühende Liebesgedichte und Briefe, gründet einen Vortragskreis. In ihrem Schauspiel »Ichundich« lässt sie prominente Nationalsozialisten in der Hölle Figuren aus Goethes »Faust« begegnen. Es wird ihr letztes sein. Im Januar 1945 erleidet Else einen schweren Herzanfall, an dessen Folgen sie am 22. Januar stirbt. Benn nennt sie später die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte. Bis zum Schluss blieb sie die Herrin ihrer eigenen Welt: eine Kriegerin, die ihre Leidenschaften wie ein Schwert gegen Klischee, Kälte und Kleinkariertheit führte.

 

Autorin dieses Artikels: Die Germanistin Martha Wilhelm arbeitet nach ihrer Tätigkeit bei einem Berliner Verlag als freie Lektorin und Autorin.

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