KING KOOL CITY BERLIN – ein Buch für Kunst- und Kulturinteressierte, Rollkoffer-Touristen, Einheimische, Zugezogene und Hiphop-Fans. Die Autoren führen in die Szene: 30 Porträts über Sprayer, Rapper, DJs, Beatboxer, Skater, Breakdancer, Produzenten und Kritiker – von 1UP, AMOK und POET über die Flying Steps und Bee Low bis hin zu Kool Savas, B-Tight, Frauenarzt und Manny Marc. Die sehr persönlichen Porträts werden durch exklusive Fotografien von Rolf G. Wackenberg illustriert.

In der heutigen Leseprobe treffen die Autoren Sarah Paulus und Rolf G. Wackenberg auf 1UP.

 

Bald schlägt es 20 Uhr. Unauffällig schlendern wir zum vereinbarten Hauseingang. Vier junge Männer treffen nacheinander ein. Einer ergreift die Initiative.
„Seid ihr wegen des Interviews hier?“ Wir nicken.
Kurzes „Hallo“ und „Freut uns“. Dann geht es los. Still folgen wir der Crew durch einen dunklen Hinterhof und das Treppenhaus hinauf. „Bitte leise sein und nicht so laut trampeln“, mahnt einer der Jungs. Vier Etagen und eine Luke später betreten wir das Dach.

Die Crew posiert auf einem Dach © Rolf G. Wackenberg

Zwar hat der Nieselregen aufgehört, doch die Schrägen sind gefährlich rutschig, was unseren Begleitern nichts auszumachen scheint. Leichtfüßig huschen sie durch ihr Revier. Kamera und Blitz werden aktiviert.
Eine Pose mit Schornstein. Ein Shoot an der Luke. Dann stehend auf dem First. Noch ein Bild von der Dachkante mit atmosphärischem Blick über das nächtliche Berlin? Danke, nein. Lieber nicht. Wer will schon ein letztes Foto.
Vorsichtig krabbeln wir zur Luke und klettern zurück ins Haus. Auf dem Dachboden wollen wir reden und hocken uns auf einen Balken. Die Gastgeber organisieren Stühle, nehmen Platz und mustern uns skeptisch. Professionell sitzen wir die Situation und kritische Fragen aus. Natürlich dürfe die Crew den Text vor Veröffentlichung sehen. Wie sich später herausstellt, wird sie sogar einen guten Teil ihrer Aussagen streichen, nicht selten die knackigsten. Außerdem bestehen die Jungs auf ein eigenes Aufnahmegerät und wollen uns im Nachgang einen Mitschnitt mit verfremdeten Stimmen zukommen lassen. Wer von ihnen sich wie geäußert hat, sei egal. Man spreche mit einer Stimme. Der Stimme von 1UP:

„One United Power wurde im September 2003 in Berlin gegründet. Aus anfänglich vier Gründern ist heute eine größere Gruppe geworden. Genauere Zahlen wollen wir nicht nennen. Es findet keine Klassifizierung statt. Ob einer nun aufpasst, die Kamera hält oder ein Haus aufschließt, jeder ist Teil der Crew. Das Alter unserer Mitglieder liegt zwischen 20 und 35 Jahren, unter ihnen sind viele Mädels. Die meisten von uns kommen aus Kreuzberg oder Neukölln.
Die Crew wächst und entwickelt sich ständig weiter. Doch wir nehmen nicht wahllos Leute auf, eigentlich nur ganz wenige. Entscheidend ist nicht, ob jemand geile Graffitis malt. Mitgliedschaft entsteht durch Freundschaft. Wir unternehmen viel, reisen gemeinsam um die Welt, lernen uns kennen, spüren Verbundenheit. Was muss ich tun, um dabei zu sein? Anfragen dieser Art funktionieren nicht. 1UP ist eine Beziehung, an die man sich herantasten muss. Mit einigen Leuten haben wir erst jahrelang gemalt, bis die Aufnahme in die Crew erfolgte.
Ob jemand in die Gruppe aufgenommen wird, entscheiden wir nicht per Stimmzettel. Vielmehr setzt sich das Kernteam der Familie zusammen und überlegt. Da wir viel Zeit miteinander verbringen, sind wir meist ähnlicher Meinung. Wir spüren, wer passt und wer nicht. Es gibt im Kern eine Art Basisdemokratie. Keine formelle Abstimmung, wenngleich schon so etwas wie Konsens.
Wir sind keine Sekte oder Graffiti-Mafia. 1UP bedeutet Zusammenhalt, Liebe, Freundschaft, Action, Familie, Leidenschaft und Eier. Jeder bringt seine Stärken in die Gemeinschaft ein. 1UP kann als Marke gesehen werden, das ist uns bewusst. Aber wir wollen damit kein Geld verdienen. Eher eine gute Zeit haben. Es geht um gemeinsame Stärke. Um One United Power. Wir wollen Aufsehen erregen. Das schafft man bestimmt nicht allein. Hätte jeder sein eigenes Ding gemacht, wäre 1UP nicht das, was es heute ist.
Wir nutzen Social Media gezielt, laden hin und wieder etwas auf Instagram hoch. Wir sind eine internationale Gemeinschaft, müssen jedoch nicht mit dem Rest der Welt befreundet sein. Leute, die 1UP malen, gibt es in vielen Ländern. In Indonesien fühlen sich gerade einige Sprayer mit uns verbunden und haben ihre eigene 1UP-Crew gegründet. Die tragen unsere T-Shirts, liken unsere Bilder und malen unseren Namen. Schmeichelhaft, aber nicht in unserem Sinn.
In den letzten Jahren tauchen immer mehr 1UP-Pieces auf. Meist sind sie von Kids, die noch keinen Plan haben und nicht peilen, dass man das nicht macht. Kenner sehen sofort, dass da Anfänger am Werk waren.
1UP am Malécon in Havanna? Ja, ein Original. Wir waren mehrere Male in Kuba. Wenn wir reisen, ist das meist eine Kombination aus Urlaub und Aktionswoche. Wir laufen mit Farben und Eimern durch die Straßen, bemalen hier und da Wände. Den meisten Leuten gefällt, was wir machen. So kommen echte Begegnungen abseits des Touristenwahnsinns zustande. Man wird vom passiven Touristen zu einem Teil der Straße. Es gibt Reisen, bei denen wir mit 20 Leuten auf Tour gehen.
1UP hat sich immer aus der klassischen Writer-Szene herausgehalten. Einige Mitglieder fühlen sich mit der Hiphop-Kultur nicht einmal verbunden. An diesen Jams mit ihren Walls of Fame und Battles haben wir uns nie beteiligt. Wir machen unser eigenes Ding. Malen natürlich mit anderen Crews. Stress gibt es wenig. Hin und wieder Situationen, in denen man abgefuckt wird. Wir selbst sind ziemlich friedliche Menschen und fucken selten Leute ab. 1UP ist offen. Wir puschen nicht dieses Ego-Ding. Es gibt keine Einzelnamen, lediglich 1UP und fertig. Natürlich arbeiten einige unserer Mitglieder zusätzlich unter eigenen Namen. In der Gemeinschaft sind die aber irrelevant.
Unsere Aktionen definieren sich durch genaue Planung. Zwar ziehen wir manchmal nach ein paar Flaschen Rotwein los. Das ist aber eigentlich nicht unsere Art. Im Ausland kann man solche dummen Aktionen ohne große Konsequenzen bringen und kommt in der Regel mit kleinen Geldstrafen oder einer Nacht im Knast davon. In Berlin dagegen sind wir sehr vorsichtig. Legale Wände malen wir selten. Dafür sind den meisten von uns die Dosen zu schade. Wir sind vorsichtig, achten auf Diskretion und machen keine Kamikaze-Aktionen, selbst wenn es manchmal so aussieht. Uns ist wichtig, dass jeder davonkommt. Keiner zurückbleibt. Wir passen aufeinander auf und versuchen, Risiken zu minimieren. Wir kalkulieren ein, was schiefgehen könnte und wie wir darauf reagieren.

© Rolf G. Wackenberg

Warum das alles? Graffiti ist keine bewusste Entscheidung. Es passiert eben. Manche haben Freude daran, mit Buchstaben schöne Sachen zu machen. Andere überhaupt keine künstlerische Motivation. Für sie zählt das Abenteuer. Nachts mit Dosen im Gepäck rausgehen. Du weißt, welche Wand du dir vornimmst, um deinen Teil zur Gestaltung des Stadtbildes beizutragen. Viele Crews definieren sich über wilde Styles. Wir nicht. Wir bomben 1UP. Dabei geht es um Aktionen, die unmöglich erscheinen. Groß, viel, an krassen Plätzen. Meterhohe Schriftzüge in drei Minuten auf Wänden direkt an den Hauptstraßen. Künstlerisch haben wir keinen Schwerpunkt. Dosen, Feuerlöscher, Rollen. Züge, Fassaden und Bahnhöfe. Alles. Viele betrachten Graffiti als Vandalismus. Aber wir schlagen keine Scheiben ein oder machen grundlos fremdes Eigentum kaputt. Da draußen gibt es eine vorgefertigte, reglementierte Welt. Die Straßen werden sauberer. Clubs schließen. Aus dieser Welt wollen wir ausbrechen und das System stören.
Unsere Ansätze sind Aktionskunst und Alternativkultur. One Crew, One Love, One Power. Andere Crews machen einen auf hart. Wir sind chillige Leute. Aber natürlich können wir auch anders. Wir haben eine gewisse Grundeinstellung, die viel mit dem alten Kreuzberg zu tun hat. Ton Steine Scherben. Besetzte Häuser. Freiräume und Multikulti.
Unsere Eltern sind relativ cool und finden in weiten Teilen gut, dass wir die Stadt ein bisschen bunter gestalten und ihr Farbe einhauchen. Sie haben über Jahre gesehen, dass 1UP eine stabile Sache ist, ihre Kinder vernünftig sind und das Leben auf die Reihe bekommen.
Unser Spirit war immer, klarzukommen und nicht im Graffiti-Sumpf zu versinken. Wir alle haben irgendwie eine durchwachsene Kindheit erlebt. Früher hieß es: Ey, wir gehen jetzt bomben, Party machen und saufen. Viele hatten eine harte Kifferzeit. Aber das legt sich mit den Jahren. Wir sind älter geworden und haben uns gefunden. Alle führen ein mehr oder weniger geregeltes Leben. Dass jemand komplett durchhängt, kommt praktisch nicht vor.
Berlin ist eine der krassesten Graffiti-Metropolen der Welt. In 20 Jahren wird das nicht mehr so sein, weil es immer mehr kommerzielles Graffiti gibt. Eigentumsverhältnisse verändern sich zugunsten reicher Spießer, die sich durch bunt gestaltete Wände bedroht fühlen. Doch der urbane Raum gehört allen und darf bemalt werden. Graffiti ist keine Zerstörung. Wir reißen keine Wände ein, sondern tragen Farbe auf. Man kann danach genauso gut drin leben wie vorher. Schaden entsteht lediglich dadurch, dass Hauseigentümer oder Hausverwaltungen so etwas nicht mögen und Geld dafür ausgeben, eine Wand zu erneuern, die sie sowieso regelmäßig in Preußisch-Ocker streichen. Kosten entstehen also durch Reinigung und nicht durch Auftragen von Farbe. Ähnlich verhält es sich bei BVG, S-Bahn oder der Deutschen Bahn. Die Züge werden gesäubert und als stumpfe Werbeflächen genutzt. Manche Firmen bemalen komplette Fassaden mit Werbung. Die sind vielleicht eine größere Gefahr als der Hausmeister, der nur Tags und Pieces übertüncht. Das Coole an Graffiti ist, dass jeder seine Ideen, Visionen oder Sorgen an die Wand bringen kann. Kommerzielle Wandmalerei ist kein Graffiti. Für Siemens eine Fassade gestalten? Kommt drauf an. Für 10.000 Euro? Wohl eher nicht. Lieber für ein Lächeln und eine warme Suppe Hauswände in Kuba oder Indien bemalen. Der nächste Flug ist schon gebucht.“

Hier endet die Leseprobe. Das ganze Kapitel zur Crew und  29 weitere Porträts finden Sie in KING KOOL CITY BERLIN.

Sarah Paulus ist als Autorin und Bloggerin auf spannungsreiche Reportagen, Reise- und Alltagsthemen spezialisiert.
Rolf G. Wackenberg, Berliner Fotograf und Autor, veröffentlicht regelmäßig in zahlreichen Magazinen und Zeitschriften.

Cover KING KOOL CITY BERLIN

Sarah Paulus, Rolf G. Wackenberg
KING KOOL CITY BERLIN. Von Hiphop bis Graffiti
192 Seiten, rund 120 Abbildungen
Elsengold Verlag, € 24,95

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