Das Jahr 1945 hat Berlin verändert wie kein anderes. Während am Anfang noch erbittert gegen die vorrückende sowjetische Armee gekämpft wurde und das NS-Regime mit aller Brutalität gegen jeden Widerstand vorging, folgte im April und Mai die Erleichterung vieler, überlebt zu haben, aber auch der Alptraum der Besetzung. Im Sommer schließlich rückten die Westalliierten in ihre Sektoren ein. Die Stadt erwachte zu neuem Leben, um dann im Winter 1945 im Frost zu erstarren. Traudl Kupfer hat zahlreiche Zeitzeugen befragt und schildert in dem Buch „Leben in Trümmern. Alltag in Berlin 1945“ das dramatische Jahr in Berlin Monat für Monat anhand dieser Erinnerungen. Jeder Monat ist mit einer zeithistorischen Einführung versehen.

Hier lesen Sie Traudl Kupfers Einleitung zum Monat März und drei exemplarische Auszüge aus ihren Interviews.

 

März 1945

Alle jungen Männer des Jahrgangs 1929 werden am 5. März zum Volkssturm einberufen. Nach einer kurzen Grundausbildung sollen die 15- und 16-Jährigen an die Front geschickt werden.
Im Westen Deutschlands überqueren am 7. März erstmals amerikanische Truppen bei Remagen den Rhein. Einen Tag später wird Angehörigen von deutschen Soldaten, die aufgeben und sich freiwillig in Gefangenschaft begeben, Sippenhaft angedroht. Auch die Standgerichtsanordnung wird weiter verschärft. Auf Befehl Hitlers wird ein „Fliegendes Standgericht“ eingerichtet, das alle strafbaren Handlungen von Wehrmachtsangehörigen, ungeachtet ihres Ranges, ahnden soll. Der jeweils dienstälteste Offizier soll den Vorsitz in den Verhandlungen führen und die Urteile fällen. Ein Gnadenrecht ist nicht vorgesehen. Dieser „Führer-Erlass“ vom 9. März wird auf Flugblättern an den Häuserwänden Berlins plakatiert.
Außerdem befiehlt Hitler die sofortige Sicherstellung aller Kunstschätze Berlins. Rüstungsminister Albert Speer veranlasst, dass viele Berliner Museumsbestände und Kunstsammlungen mit Lastwagen in Salzstöcke an der Saale und an andere sichere Orte gebracht werden.
In Berlin werden Vorbereitungen zur Verteidigung der Reichshauptstadt getroffen. Sie soll „bis zum letzten Mann und bis zur letzten Patrone“ gehalten werden. Die Hitlerjugend sowie Frauen und Männer, die noch nicht anderweitig eingesetzt sind, müssen Schanzen und Barrikaden errichten. Am Vormittag des 18. März fliegt die amerikanische Luftwaffe bei strahlend blauem Himmel den bisher schwersten Luftangriff auf Berlin. 12 000 Tonnen Sprengbomben werden über der Stadt abgeworfen. Es trifft hauptsächlich Arbeiterviertel in Mitte, Wedding, Prenzlauer Berg, Kreuzberg, Horst-Wessel-Stadt (Friedrichshain), Siemensstadt und Niederschönhausen. Mehr als 330 Menschen sterben, fast 80 000 werden obdachlos. Das Rote Rathaus wird schwer beschädigt. Die Akademie der Künste am Pariser Platz sowie der Bärenzwinger im Köllnischen Park in Mitte erhalten Treffer. Alle Bären sterben, bis auf einen. Über der Stadt steht eine schwarze Rauchwolke. Die Brände können nicht mehr gelöscht werden, der öffentliche Nahverkehr ist lahmgelegt.
Albert Speer, Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion, warnt Hitler vor dem Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft. Doch Hitler ist der Meinung: „Wenn der Krieg verloren geht, wird auch das Volk verloren sein. Es ist nicht notwendig, auf die Grundlagen, die das deutsche Volk zu seinem primitivsten Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen. Im Gegenteil ist es besser, selbst diese Dinge zu zerstören. Denn das Volk hat sich als das schwächere erwiesen, und dem stärkeren Ostvolk gehört ausschließlich die Zukunft. Was nach diesem Kampf übrig bleibt, sind ohnehin nur die Minderwertigen, denn die Guten sind gefallen.“
Am 19. März erlässt Hitler den „Nero-Befehl“: Alle militärischen Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen sowie Sachwerte innerhalb des Reichsgebietes, die sich der Feind für die Fortsetzung seines Kampfes gegen die Deutschen irgendwie zunutze machen könnte, müssen zerstört werden. Es soll nur „verbrannte Erde“ hinterlassen werden.
Am Vormittag des 28. März erfolgt erneut ein schwerer Angriff der US Airforce, bei dem etwa 340 Menschen sterben. Der Schlesische Bahnhof wird zerstört, Friedrichshain schwer beschädigt. Am gleichen Tag werden die Lebensmittelrationen für April nochmals gekürzt. Künftig soll es nur noch 250 Gramm Brot (ca. fünf Scheiben), 35 Gramm Fleisch, jeweils 18 Gramm Fett und Zucker und 32 Gramm Nährmittel (Graupen) pro Tag geben.
Die letzte Berliner Filmpremiere während der Naziherrschaft findet am 30. März in den B.T.L.-Lichtspielen in der Potsdamer Straße statt: Gezeigt wird der Liebesfilm „Das alte Lied“ mit Karl Martell, Lotte Koch und Ernst von Klipstein.
Am 31. März stoppt Oberbefehlshaber General Dwight D. Eisenhower den Vormarsch der Westalliierten nach Berlin. Die Eroberung der deutschen Hauptstadt soll den sowjetischen Truppen überlassen werden. Dies hat er Stalin einige Tage zuvor bereits mitgeteilt. Der britische Premierminister Churchill ist über diese Entscheidung sehr verärgert, kann jedoch nichts dagegen ausrichten. Er ist der Meinung, dass es wichtig sei, dass die Westalliierten so weit wie möglich in den Osten Deutschlands vorrücken und Berlin keineswegs freiwillig den Russen überlassen sollten.

Aus den Interviews mit Ingeborg Schwarz:
Ingeborg Pätzold lebt noch bei ihren Eltern in Karlshorst, denn sie und ihr Verlobter Wolfram Schwarz dürfen nicht heiraten. Wolfram ist Halbjude. Er wurde nach Thüringen deportiert, in das Konzentrationslager Mittelbau-Dora, ein Außenlager des KZ Buchenwald. Dort arbeitete er im Bergbau. Zum Glück versteht er etwas von Elektrizität und war deswegen nur zum Legen von Stromleitungen eingesetzt. Schwere Arbeit blieb ihm erspart. Vor wenigen Tagen ist er nach Berlin zurückgekehrt. Eine Kiemengangzyste am Ohr hat ihn aus dem KZ befreit: Der Lagerarzt ist offensichtlich kein überzeugter Nazi – er veranlasste, dass Wolfram mit dieser ständig eiternden Zyste außerhalb des Lagers behandelt werden durfte. Da Wolframs Mutter in Berlin wohnt, bat er darum, dort zum Arzt gehen zu dürfen. Die Reise wurde ihm gewährt. Der behandelnde Arzt in Berlin rät ihm dringend, nicht ins KZ zurückzukehren, sondern sich zu verstecken. Wolfram sucht zunächst Unterschlupf bei Verwandten, dann bei Ingeborgs Eltern in Karlshorst. Dort versteckt er sich im Keller. Vor den Nachbarn in Karlshorst müsste man eigentlich nicht geheim halten, dass sich ein Halbjude im Keller versteckt. Diejenigen, die noch hiergeblieben sind, sind keine Nazis. Die Nazis aus dem Haus sind schon längst aus Berlin geflohen. Trotzdem sind Wolfram, Ingeborg und ihre Eltern vorsichtig. Tagsüber geht Wolfram lieber nicht nach oben in die Wohnung.

Aus den Interviews mit Christa Sohr:
Direkt hinter dem Mietshaus der Hoffmanns in Zehlendorf liegt freies Feld, auf dem auch ein Bunker steht. Hier draußen am Stadtrand werden sie sonst kaum von Bombenabwürfen behelligt, aber diesen Bunker beschießen die Alliierten. Da ihre Mutter sie nachts bei Alarm nicht mehr in den Keller schickt, stiehlt sich Christa eines Abends mit ihrer großen Schwester Ingeborg auf den Trockenboden im Haus. Mithilfe einer kleinen Leiter können sie dort oben prima aus der Dachluke sehen und die herabregnenden „Christbäume“ beobachten. Diese Leuchtfeuer, die von den Bombern an kleinen Fallschirmen abgeworfen werden, damit die Piloten im Dunklen das Ziel für den Abwurf der Bomben erkennen, sind ein faszinierender Anblick.

Aus den Interviews mit Klaus Gerner:
Klaus Gerner hat Hepatitis. Man kann nicht behaupten, dass das eine gute Nachricht sei, aber die Krankheit rettet ihm vielleicht das Leben. Denn mit Hepatitis kann er nicht zum Volkssturm eingezogen werden. Schon einmal war eine Krankheit für ihn und seine Mutter recht hilfreich: 1944 bekam Klaus Scharlach, eine hochansteckende, schwere Kinderkrankheit. Seine Mutter war damals zur Zwangsarbeit in einer Fesselballonfabrik in Berlin verpflichtet. Ihre Hausärztin, eine strenge Katholikin, die sich sehr um alle ihre Patienten kümmerte, sorgte dafür, dass Klaus gemeinsam mit seiner Mutter in Quarantäne bleiben konnte. In die Fesselballonfabrik musste Elli Gerner anschließend nicht mehr zurück.

 

Traudl Kupfer arbeitete beim Rundfunk, als Produktionsleiterin und als Managerin am Theater. Heute widmet sie sich dem geschriebenen Wort – sie ist als freie Lektorin, Redakteurin und Autorin tätig.

 

Die Leseprobe entstammt Ihrer Publikation „Leben in Trümmern. Alltag in Berlin 1945“, Elsengold Verlag 2015

 

Lesen Sie auch unseren Beitrag zum Leben in Berlin im Mai 1945:

Leben in Trümmern: Berlin im Mai 1945

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