Ein Ausflug in das „kleine Wedding“ Charlottenburgs

Eine Leseprobe

Der Charlottenburger Schloßstraße kann keine der Prachtstraßen Berlins das Wasser reichen. Zumindest dann nicht, wenn es um die topografischen Voraussetzungen fürs Boulespielen geht. Auf dem 53 Meter breiten Kurfürstendamm parken Autos auf dem Mittelstreifen, und auf dem nochmal sieben Meter breiteren Konkurrenten Unter den Linden verhindert der U-Bahnbau auf Jahre jegliche Freizeitgestaltung im Freien.
Bei der größtenteils 70 Meter breiten Schloßstraße ist die Bezeichnung Mittelstreifen hingegen eine Untertreibung. Der von Rasen und Baumreihen gesäumte breite Gehweg lockt Boulespieler aus der ganzen Stadt an. Gelegenheitskugelstoßer treffen hier auf hart gesottene Spieler, die sich auch nicht von einer Schneedecke über dem Kies von ihrem Sport abhalten lassen. Einige der benachbarten Lokale verleihen praktischerweise Boulekugeln. Sie hatten ausreichend Zeit, sich auf dieses Geschäftsfeld einzustellen, schließlich lässt sich die Bouletradition bis in die Sechzigerjahre zurückverfolgen. Damals hatte sich der Grünstreifen des Boulevards bereits wieder von seiner Funktion als Kartoffelacker erholt, die er in der Nachkriegszeit übernehmen musste. Auf seinen 600 Metern wird er nur von zwei mäßig befahrenen Querstraßen unterbrochen, und auch der Verkehrslärm auf der Schloßstraße selbst hält sich in Grenzen. Das Beste ist die Sicht auf die Kuppel des Charlottenburger Schlosses, die man von der Mittelpromenade aus hat.
Die Schloßstraße ist nicht als Verkehrs-,  sondern als Sichtachse entstanden. Wenn sich der preußische Hofstaat auf den Weg in das Berliner Stadtschloss machte, wählte er vielmehr den Weg über die Berliner Straße, die heutige Otto-Suhr-Allee. Die Entfernung zum ehemaligen Stadtschloss markiert heute noch ein sechs Meter hoher Meilenstein mit goldener Kuppel auf dem Spandauer Damm – kurz bevor dieser in die Otto-Suhr-Allee übergeht –, der die Inschrift „1 Meile von Berlin“ trägt, was siebeneinhalb Kilometern entspricht. Die rein aus optischen Erwägungen angelegte Schloßstraße, die bis Ende des 18. Jahrhunderts Große Allee hieß, endete an den königlichen Fischteichen, dort, wo sie heute die Knobelsdorffstraße kreuzt.

Abendstimmung am Schloss Charlottenburg © Jürgen Henkelmann

Zu den ersten Anwohnern der Schloßstraße gehörten die beiden „Kammertürken“ Friedrich Aly und Friedrich Wilhelm Hassan. Beide waren vermutlich 1686 bei der Schlacht um Budapest, bei der die Habsburger und Preußen das osmanische Heer vernichtend geschlagen hatten, in Gefangenschaft geraten. Ende des 17. Jahrhundert galt es an europäischen Höfen als schick, sich von orientalischen Lakaien bedienen zu lassen. Daher wurden die wohl ersten in der Region lebenden Türken Diener im Hofstaat von Königin Sophie Charlotte, der Gattin des ersten Preußenkönigs Friedrich I., der Schloss und Stadt – somit auch der heutige Ortsteil – den Namen verdanken. Zumindest Alys Nachfahren leben bis heute in Berlin.
Hassans Haus mit der Nummer 6 wurde 1704 nach Plänen des Hofarchitekten Johann Friedrich Eosander von Göthe errichtet und zum verbindlichen Vorbild für den Wohnungsbau in der gerade entstehenden Stadt erklärt. Alys Haus wurde im selben Jahr auf dem Grundstück Schloßstraße 4 gebaut. Stünden die beiden Wohnhäuser heute noch – das eine musste 1883 einem Neubau Platz machen, das andere wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört –, wären sie die ältesten Charlottenburgs.
So geht diese Ehre aber an das einstöckige Gebäude in der Schustehrusstraße 13. Der Bau dieses Hauses geht auf eine königliche Order zurück: Weil Charlottenburg nicht so schnell wuchs, wie man sich das am Hofe vorstellte, wurden alle am Schlossbau beteiligten Handwerker, die zur Miete wohnten, dazu verpflichtet, sich ein eigenes Domizil in der 1705 zur Stadt erhobenen Siedlung zu errichten. Dies galt auch für den Goldschmied Gottfried Berger, der sein 1712 erbautes Haus allerdings kaum bewohnte, weil er schon drei Jahre später das seines Freundes Aly in der Schloßstraße erwarb. Dass das kleine Gebäude in der Schustehrusstraße 13 heute noch steht, ist aufmerksamen Bürgern zu verdanken, die an Heiligabend 1983 die Polizei verständigten: Der damalige Besitzer wollte die Gunst der Stunde nutzen, als er die Anwohner durch den weihnachtlichen Trubel abgelenkt wähnte, um das denkmalgeschützte Bauwerk, in dem sich seit 2004 das Berliner Keramikmuseum befindet, abreißen zu lassen.

 

Bunt bepflanzte Balkone in der Seelingstraße © Jürgen Henkelmann

Spätestens ab Anfang des 20. Jahrhunderts markierte die Schloßstraße eine soziale Grenze. Westlich, im Herzen des Klausenerkiezes, waren inzwischen ärmliche Mietskasernen entstanden. Auf der östlichen Seite ging es etwas vornehmer zu. Bestes Beispiel dafür ist die Villa Oppenheim in der Schloßstraße 55. Das stattliche Haus, in dem heute das Museum Charlottenburg-Wilmersdorf Heimatgeschichte vermittelt, ist nur ein kleiner Teil des ursprünglichen Anwesens, genauer gesagt handelt es sich um den damaligen Südflügel und das Hauptquergebäude der 1881/82 erbauten Villa.
Der Rest, darunter Stallungen, eine hölzerne Kegelbahn, zwei Treibhäuser sowie ein Gartensaal, wurde abgerissen, nachdem die Stadt Charlottenburg das Grundstück 1911 zu einem günstigen Preis erworben hatte. Warum die Familie Oppenheim verkaufte, ist unklar. Möglicherweise mochten sie ihren Garten nicht mehr unbeschwert nutzen, weil er von den mittlerweile entstandenen höheren Nachbarhäusern aus einsehbar geworden war. Die Motive der Stadt waren hingegen klar. Sie brauchte dringend Grünflächen für die Unterschicht und ließ den Garten der Villa von Erwin Barth zu einer öffentlichen Anlage umgestalten. Damit wollte man vermeiden, dass Bewohner von Arme-Leute-Vierteln wie etwa dem Kiez um den Klausenerplatz auf die Idee kamen, den nahen Schlosspark als Erholungsort zu beanspruchen. Der nach dem damaligen Charlottenburger Oberbürgermeister Kurt Schustehrus benannte Park bekam zur besseren Erschließung eine kleine von der Schloßstraße ausgehende Stichstraße mit der damals noch wohlklingenden Bezeichnung Am Parkplatz. Seit 1989 heißt der Weg nach Otto Grüneberg, einem 1931 bei gewaltsamen Auseinandersetzungen von einem SA-Mann ermordeten Antifaschisten. Der Tatort befand sich auf der gegenüberliegenden Seite der Schloßstraße, Hausnummer 22, wo heute die Boulespieler in den Biergarten der „Kastanie“ einkehren.

Hier endet unsere Leseprobe.

Den ganzen Streifzug durch den Klausenerkiez und 19 weitere Kieze in Text und Bild finden Sie in dem Buch Sebastian Petrich: Die schönsten Berliner Kieze. 20 Streifzüge durch die Stadt, Elsengold Verlag.
Alle Fotos in diesem Buch wurden von Jürgen Henkelmann aufgenommen, Fotodesigner und Bildjournalist aus Berlin.Sebastian Petrich, Autor dieses Artikels, arbeitet als freiberuflicher Texter und Redakteur in Berlin, wenn er nicht gerade durch die Berliner Kieze schlendert.

Beitragsbild ganz oben (Blick auf das Schloss Charlottenburg, davor das Prinz-Albrech-von-Preußen-Denkmal) © Jürgen Henkelmann.

 

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